17.10.2010: Mike Stern / Didier Lockwood, Freiburg, Jazzhaus
07.10.2010: Lyambiko, Freiburg, Jazzhaus
24.09.2010: Malia / Manu Katché, Denzlingen, Bürgerhaus
24.09.2010: Ulan und Bator, Freiburg, Vorderhaus
30.07.2010: Tina Dico / Selah Sue, Lörrach, Rosenfelspark
24.07.2010: James Morrison, Freiburg, ZMF
17.07.2010: Simple Minds, Freiburg, ZMF
24.07.2010: Get Well Soon, Freiburg, ZMF
23.07.2010: Tok Tok Tok, Freiburg, ZMF
18.07.2010: Los Cojones, Freiburg, ZMF
14.07.2010: The Brothers, Freiburg, ZMF
17.07.2010: Cocorosie / The Broken Bells, Montreux, MJF
08.07.2010: Massive Attack, Montreux, MJF
15.07.2010: Maximo Park / We Have Band, Freiburg, ZMF
09.07.2010: Jan Josef Liefers, Freiburg, ZMF
08.07.2010: Stefan Gwildis, Freiburg, ZMF
19.03.2010: Paco De Lucia, Zürich, Kongresszentrum
17.10.2010, Jazzhaus Freiburg:
Grinsekatze trifft Teufelsgeiger
Über die sportliche Musikalität von Mike Stern und Didier Lockwood
Keine Frage, Mike Stern ist einer der ganz großen Jazzfusion-Gitarristen und natürlich stellt er das an diesem Abend im Freiburger Jazzhaus live unter Beweis. Sein Reich ist die Bühne, seine Welt entsteht durch die Töne seiner Gitarre, durch die unglaubliche Geschwindigkeit seiner Tonfolgen, durch die harten, unbarmherzigen Akkorde. Melodisch, melancholisch schön oder gnadenlos perfektionistisch - beides wird mit einer Leichtigkeit präsentiert, dass einem beim Zuhören schwindlig wird. Schließt man die Augen, kann man bei den rockigen und lauten Stücken "die Sau rauslassen, ohne sich zu bewegen", bei den langsamen, gefühlvollen Stücken treibt die "Blue Note" einem die Tränen in die Augen. Natürlich passen die Geigentöne von Didier Lockwood perfekt dazu - sanft lamentierend oder bis zur Schmerzgrenze brutal entlockt der französische Geiger seinem Instrument alles. Er ist der heimliche Star des Abends - zurückhaltend, wenn Soli von Mike Stern oder Alain Caron am 6-saitigen Bass begeistern, selber solierend stellt er beide in den Schatten. Wahrscheinlich durch die ebenfalls hervorragende Fingertechnik, hauptsächlich jedoch, weil Didier es schafft, in jedes seiner Soli eine Variation zu bringen, die überrascht, die einem kurz den Atem stocken lässt. Berauschend.
Es sind vier seltsame Vögel, die da gemeinsam musizieren: Mike Stern kommt mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf die Bühne, in der Hand eine Kaffeetasse. Im Vorbeigehen wird das Publikum begrüßt ("Hi, how are you!") und schon geht's los. Die Knie des Gitarristen wippen stetig im Takt mit, die Beweglichkeit seiner Hüfte ist beneidenswert - er wäre sicher ein hervorragender Bauchtänzer! Hat der Zuschauer sich daran gewöhnt, wird es sympathisch, wie unprätentiös er auf der Bühne steht. Nur das breite Dauergrinsen gibt Anlass zur Spekulation: Was ist in dem Kaffee? Der Spaß, den Mike auf der Bühne hat, ist ansteckend - Didier grinst und überbietet Mikes Kniewippen mit unmöglichen Posen (Skifahrer?), in denen er trotzdem noch unglaublich gut Geige spielen kann. Alain grinst und groovt trotzdem Bassisten-like, der Schlagzeuger kommentiert das Spektakel mit begeisterten Ausrufen (übrigens kommen diese auch aus dem Publikum - richtiges Jazzkneipenfeeling!). Da klingt die Geige plötzlich wie eine Gitarre, die Gitarre imitiert die Geige, das Spiel geht hin und her, schaukelt sich auf, mit Hilfe des Pedals werden alle Effekte mal ausgepackt - letztendlich endet der Wettkampf in lautem, von Gitarre und Geige imitiertem Möwengelächter.
...und Teufelsgeiger Lockwood.
Zur Pause springt Mike von der Bühne ins Publikum und rennt mit einem breiten Grinsen ("CDs over there - christmas is coming!") zum CD-Stand. Übers Widmungen schreiben vergisst er doch glatt seinen Kaffee, den er nach der Pause von der Bühne aus ordert - "Mike Stern would like a coffee!". Sein Tourbegleiter - ein kleiner, gedrungener, kahlgeschorener, extrem kräftiger Typ - kämpft sich, eine kleine Kaffeetasse in der Hand, von der Bar durch die vielen Zuschauer an den linken Bühnenrand, wo er die Tasse behutsam abstellt und sich daneben setzt. Natürlich wird dem grinsenden Mike die Tasse beim nächsten Geigensolo persönlich in die Hand gegeben und wir fragen uns wieder einmal, was in dem Kaffee ist. Wir hätten gerne auch so einen.
Nach acht Liedern und einer Zugabe erwischt die Grinsekatze mich doch noch, am CD-Stand stehend. Mike Stern kommt auf mich zu, zeigt auf seine neue CD und meint grinsend: "That´s a good one!". Ich grinse zurück. Live ist noch viel besser.
killerkatze
Zuschauer: rund 200
Spieldauer: 2,75h brutto
Die Band:
Mike Stern, Gitarre
Didier Lockwood, Violine
Alain Caron, Bass
Lionel Cordew, Schlagzeug
Homepage von Mike Stern
07.10.2010, Jazzhaus Freiburg:
Afterwork-Jazz mit Sandy Müller
Lyambiko (ver)zaubert im Jazzhaus
Kennen Sie Sandy Müller? Nein? Bei Google findet sich unter Sandy Müller eine Spielhallenbesitzerin, eine Fotografin, Logopädin, eine italienische Sängerin und auch die Haarstylistin aus Potsdam darf nicht fehlen. Erst auf der dritten Seite, ganz unten ein Hinweis auf die liebenswerte, offene, fröhliche Person um die es hier geht - Lyambiko. Zurecht hat die große Frau mit dem dunklen Teint und der krausen Lockenmähne den Nachnamen ihres afrikanischen Großvaters zu ihrem Künstlernamen gemacht - passt einfach besser.
An einem Donnerstag ins Jazzhaus - den Kopf noch voller Gedanken an die Arbeit. Kurz vor Beginn noch schnell den Waschraum aufsuchen und beim Verlassen desselbigen der Hauptakteurin über den Weg laufen. Mit einem Grinsen und einem freundlichen "Hallo" verschwindet Sandy in den Örtlichkeiten. Hoppla - spätestens jetzt bin ich im Jazzhaus angekommen.
Kurze Zeit später steht Lyambiko auf der Bühne und gibt sich genauso natürlich und offen. Die Ansagen scheinen spontan (dabei tourt die Band doch schon eine Weile) und werden mit so viel Freude vorgetragen, dass das gemischte Feierabend-Publikum sich sehr schnell mit Lyambiko verbündet. Kleine Geschichten erleichtern dem Publikum den Zugang zu den neuen Kompositionen - im ersten Set werden hauptsächlich Lieder der neuen CD "Something Like Reality" präsentiert. Die Songs sind meist Eigenkompositionen der Bandmitglieder und damit so unterschiedlich wie die Musiker und ihre Instrumente. Allein Lyambikos Stimme verbindet sie zu einem großen Ganzen. Ihre Stimme variiert passend zu den Liedern, ist mal kräftig, mal sanft hauchend, mal obszön, dann wieder lieblich, immer jedoch erstaunlich tonsicher (beeindruckend bei "Clothoid"). Zu jeder Geschichte schafft sie die richtige Stimmung, macht die Lieder im Kopf der Zuhörer lebendig, berührt die Menschen. Die kleinen sympathischen Ansagen verstärken den Eindruck der ehrlichen Direktheit. Hier wird Musik nicht "gemacht", sie ist. Ganz oft steht die Gesamtleistung im Vordergrund, ein gemeinsamer Klang entsteht, erst leise, vorsichtig, dann sicherer, voller, berauschender. Lyambiko stellt sich dann auch im Profil zum Publikum, singt mit der Band, gleichberechtigt kommunizieren die Töne, finden zusammen. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass hier in einem Proberaum gejammt wird, die Zuhörer vergessen, in der Musik aufgegangen.
Im zweiten Set nach der Pause wird weniger erzählt und mehr experimentiert. Lymabiko präsentieren eine gelungene Mischung aus älterer Lieder und Coverversionen (hauptsächlich aus dem Album Saffronia) und zeigen einmal mehr die Variationsmöglichkeiten der Band - von minimalistischem Jazz (Crossroads von Tracy Chapman!) über Pop zu schon rockig angehauchten Interpretationen. Nur die Bläser, die die Arrangements der Lieder des neuen Albums "Something Like Reality" so besonders machen, fehlen leider auf der Bühne.
Lyambiko sagte einmal, man muss in der richtigen Stimmung für ihre Musik sein. An diesem Abend hat die Stimmung der Band zur Stimmung des Publikums gepasst. Nach ihrem Paradestück "Angel Eyes" und zwei weiteren Zugaben hätten Lyambiko immer weiter spielen können, es wäre nicht langweilig geworden. Ein schöner Afterwork-Jazzabend.
killerkatze
Zuschauer: knapp über 100
Spieldauer: 2,5 h brutto
Lyambiko sind:
Sandy Müller "Lyambiko", Gesang
Marque Lowenthal, Piano
Robin Draganic, Bass
Heinrich Koebberling, Drums
Homepage von Lyambiko
Jazzhaus Freiburg
24.09.2010, Between the Beats Jazz-Festival, Denzlingen:
Ein Lichtstrahl in der Dunkelheit
Malia und Manu Katché bringen ein wenig Glanz der großen Jazzbühnen nach Denzlingen
Es ist ein weiter Weg nach Denzlingen, vor allem wenn man wie Manu Katché aus Paris kommt, in Strasbourg seinen Zug verpasst, andere Züge und Taxen nehmen muss. Zu Beginn seines Konzertes erfährt das Publikum, dass er auf dieser Reise viel Zeit hatte, über das Konzert nachzudenken - ob die Veranstalter das beabsichtigt hatten, als sie auf die Homepage schrieben, man solle doch bitte CO2-freundlich mit dem Zug anreisen? Aufgrund des Wetters und der Zeitnot kamen viele mit dem Auto und fanden sogar noch Platz direkt vor dem Bürgerhaus. Das aufmerksame, disziplinierte, hochkonzentrierte Publikum, das an diesem verregneten Herbstabend nach Denzlingen findet, wurde durch die Kartenpreise bereits vorselektioniert und entspricht dem gut situierten Jazzpublikum aus Freiburg und anderswo. Fast zwei Jahre ließen die Organisatoren Markus Muffler und Dennis Wiesch sich Zeit, um das erste Between the Beats Festival auf die Beine zu stellen. Ein Glück für die Organisatoren, dass mit Monsieur Katché einer der besten Jazzmusiker unserer Zeit ins Bürgerhaus kommt, um die Idee der "handverlesenen Musik in exquisitem Rahmen" zu unterstützen. Und, um es vorweg zu nehmen, an diesem Abend geht das Konzept auf, verwandelt sich das Konzert auf dem Feld zu einem Jazzhighlight des Jahres.
Es dauert eine Weile bis Malia mit ihrer Band das Konzert beginnt, und beim Betrachten des schönen und interessanten Bühnenhintergrunds ärgere ich mich, vorher nichts gegessen zu haben. Genug Zeit, mir über Malia Gedanken zu machen, begleitet mich ihr erstes Album "Yellow Daffodils" mit Texten über Liebe, Schuhe und Einsamkeit schon länger durch alle Lebenslagen. Malia tritt an diesem Abend mit zartrosa Perücke und weißem Kleid auf die Bühne, und verzaubert das Publikum mit Ansagen auf Denglisch. Sie versuche ja, Deutsch zu lernen, aber in ihrer Wahlheimat Zürich spricht man Schweizerdeutsch und das sei weniger sexy. Außerdem würde ihr Mann ihre Ansagen auf der Bühne verbieten, wenn er könnte, da sie nur Blödsinn reden würde. Glücklicherweise hält sich Malia nicht daran.
Über den Sexappeal der deutschen Sprache lässt sich sicher streiten, nicht aber über den ihrer Stimme. Etwas zerbrechlich, mit viel Luft und trotzdem kraftvoll kommt ihr tiefer Alt besonders bei den langsamen, traurigen Liebesliedern zur Geltung, geht unter die Haut. Ihre Lieder beschreiben unter anderem das Leben der Afrikanerin im Londoner Exil, und bedienen sich bei Jazz, Soul und Pop. Während des Konzerts steigert sich das Tempo, die Lieder werden schneller, mitreißender, lassen trotzdem Platz für Improvisation. Malias Stimme bleibt immer sehr präsent, auch wenn Kontrabassist, Schlagzeuger und Pianist ab und an solieren dürfen. Schade nur, dass rechts der Bühne bei den schnelleren, lauteren Liedern der Gesang etwas untergeht und der Rhythmus des Schlagzeugs von der Empore zurückschallt. In die Bühnenmitte gerückt, ist der Klang jedoch hervorragend. Ton- und Lichttechnik leisten gute Arbeit - erstaunlich, wie der Bühnenhintergrund farblich variieren kann! Malia passt auf diese Bühne, passt zum Wohnzimmer Denzlinger Bürgerhaus, unspektakulär, sympathisch, bescheiden. Wohlige Gemütlickeit.
In der Pause bei Kressesüppchen und italienischem Mandelkuchen kommt man ins Gespräch und erfährt, dass Malia auch ohne rosa Perücke mit glattrasiertem Schädel durchs Hotel hüpft. Der Pianist wird gelobt, jedoch dreht sich das Gespräch eher um das bevorstehende Konzert, freudige Erwartung macht sich breit, die Müdigkeit verfliegt.
Tore vor dem Chämeleon-Hintergrund.
Es ist halb elf als Manu Katché auf die Bühne tritt und von seiner Anreise erzählt. Was folgt ist Kraft, Rhythmus, pulsierendes Leben. Bei Manu Katché wird das Schlagzeug vom Krachmacher zum Melodieinstrument, er liebkost die Becken, streichelt die Snare, unerbittlich durchdringt die Bass Drum den Raum, vibriert im Bauch, nimmt das Publikum mit. Dabei sind Schlagzeug und Piano gleichgestellt, Katché und Alfio Origlio am Flügel ergänzen sich, spielen mit- und gegeneinander, dabei immer harmonisch. Kommt Tore Brunborg am Saxophon dazu, wird es melodischer, wunderbar passen sich Schlagzeug und Piano an. Unter allem pulsiert der Bass (Laurent Vernerey), stützt und führt. An diesem Abend mischen die Musiker Lieder aus allen drei Alben Katchés, um sie, wie er es selber ausdrückt, zu elektrifizieren, "to get into the groove". Dabei führt Katché seine Musik vom Schlagzeug aus so präzise, wie ein Zeichner jeden Pinselstrich exakt an die richtige Stelle setzt.
Manu hat Spaß - wir auch!
Die Zeit verfliegt, das Publikum geht im Bann der Klangwelten auf, Endorphine werden frei gesetzt. Als erste Zugabe kommt Katché alleine auf die Bühne, setzt sich ans Schlagzeug und spielt ein Solo, das jede Wahrnehmung übersteigt. Was sich nicht fassen lässt, wird zum Lichtstrahl und leuchtet in der Dunkelheit. Katché steht auf, bedankt sich bescheiden beim Publikum dafür, dass er und seine Band hier spielen durften, und schickt es mit einer Ballade auf den Nachhauseweg. Die tiefe Nacht der Denzlinger Wiese ist durch ihn vielleicht ein wenig heller geworden. Trotzdem war ich froh, in mein Auto und nicht in den Zug steigen zu müssen.
killerkatze
Zuschauer: 450
Spieldauer:
Malia: 80 Minuten
Manu Katché: 90 Minuten
Between the Beats Festival
18.09.2010, Vorderhaus Freiburg:
Die Schawelle überscharreitem
Ulan und Bator: Wirrklichkeit
Zwei Männer in Anzug und Babybommelmütze intonieren in perfekter Synchronizität rhythmische Texte sinnfreien Wortlauts. Ebenso sinnfrei wirkt es auf den ersten Blick, als sie sich gegenseitig mit Filmzitaten bewerfen, in einer wilden Schlacht passungsloser Gesprächsbrocken, die voneinander abprallen, aneinander zerbröseln. Spätestens hier wird dem Publikum klar, dass es sich nicht um das Erfassen des zugehörigen Drehbuchs zu bemühen braucht. Dass es besser daran tut, sich vom raschen Wechsel der Eindrücke mitspülen und im kurzgetakteten Rhythmus pointierter Verwirrungen dem Zwerchfell freien Lauf zu lassen. Die Themen, die dabei en passant aufgegriffen, verwirbelt und wieder weggeworfen werden reichen von unterschiedlichen Sinn- und Unsinnsfragen bis hin zu Betrachtungen über das einfache Schreiten mit verdoppeltem Schritt.
Es gibt ihn wirklich - den Mann, der zwei Schritte macht, wo andere nur einen machen. Übrigens spielt es dabei keine Rolle, ob dieser Herr mehr oder weniger als andere in Eile ist, geschweige denn, ob er schneller oder langsamer voran kommt als jene. Ulan und Bator haben ihn gefunden, diesen Mann, und willkommen geheißen als Figur ihres Arsenals von Fundstücken aus sämtlichen Bereichen der Kulturgeschichte. Er mag Sinnbild sein für irgendetwas, dieser Mann, oder auch nicht. Unstrittig jedenfalls ist er ein Schritte machendes Standbild dessen, was es ganz offenbar auch gibt. Ein Bild, das jenen angenehm verwirrt, der sich gerne verwirren und dabei um eine Facette Wirklichkeit bereichern lassen möchte. Und ein Bild, das lediglich kurz aufblitzt, um von völlig anderen Bildern überrumpelt, überdeckt, verschluckt zu werden, bis sich der Betrachter Stunden später durch irgendeinen Zufall an diese winzige Szene unter zig anderen erinnert sieht.
Scheinbar wahllos greifen die beiden überaus vielseitigen Schauspielkünstler aus ihrem Arsenal eine Unzahl von Kalauern, Bruchstücken klassischer Stücke, Filmzitaten sowie eben jenen Alltagsfunden heraus, um sie in atemberaubend dichter Folge mit minutiöser Perfektion zu zelebrieren. Gleich Spielbällen werfen sie sich die Einsätze zu und in dieser Jonglage der Einzelelemente liegt die eigentliche Würze der Darbietung.
Es sind keine Spaßmacher auf der Bühne, sondern zwei Vollmenschen, die überraschen wollen und es dabei nicht scheuen, auch sich selbst zu überraschen. Improvisationen prägen vor allem die Übergänge von einer Szene zur nächsten, sodass szenenimmanente Pointen immer wieder in Meta-Pointen kulminieren. In Brüchen, Abbrüchen, Interventionen und Überschneidungen werden dabei stets aufs Neue die Gestalter des Ganzen sichtbar und verleihen dem Spektakel eine intensive Authentizität und Glaubhaftigkeit. Die beiden Darsteller wechseln in atemberaubender Frequenz die Rollen des Mimen, des Künstlers und nicht zuletzt des fühlenden Menschen dahinter, der zuweilen selbst zum Spielball des eigenen Spiels wird.
"Wirrklichkeit" ist damit nicht nur ein Kunstwerk, das die Schwelle des Comedy-Genres weit überschreitet, sondern vor allem ein Ereignis, das das Komische am Komischen immer wieder neu befragt und erlebbar macht.
Patrick Widmann
Zuschauer: 160
Spieldauer: 130 Minuten
Hompage von Ulan & Bator
30.07.2010, Stimmen, Rosenfelspark Lörrach
Variationen von Blond
Frauenpower aus dem Norden mit Selah Sue und Tina Dico
Das ZMF ist vor einer knappen Woche erfolgreich zu Ende gegangen, und um eventuellen Entzugserscheinungen von Livemusik vorzubeugen, hat sich die schreibwütige Rezensentin gleich fürs Stimmen-Festival eine Akkreditierung geholt... Also heißt es an diesem Freitag: auf nach Lörrach! Zwar ist die Anfahrt nicht mehr mit dem Fahrrad zu bewältigen, trotzdem kommt man auch über Umwege durch den schönen Schwarzwald erfolgreich in Lörrach an.
Nach einer durchweg verregneten Woche ist das Wetter heute milde gestimmt - die Sonne scheint. Die Stimmung hebt sich, denn Open-Air im Rosenfelspark mit Regen will niemand. Am Ort des Geschehens wird erst mal hungrig nach Verpflegung gefragt und man bekommt die Auskunft, dass es im Park "Indisch und Bio" gibt. Bio meint unter anderem ökologisch angebaute Cola, Gemüsewaie und Bier. Mit selbigem gestärkt, freut man sich auf das Doppelkonzert von Selah Sue und Tina Dico. Die Atmosphäre im Park gleicht einem Picknick, lauter entspannte, quatschende Leute aller Altersschichten sitzen auf Plastikstühlen oder Bierbänken. Die Sonne beleuchtet noch die Baumwipfel und auf der Bühne haben links und rechts zwei Tannen ihren Platz gefunden. Gemütlich.
Diese gelassene Ruhe wird gestört, als plötzlich ein menschliches Wesen auf der Bühne rumhüpft und Töne und Wörter von sich gibt, die beim Sprechen erst noch geboren werden müssen. Zumindest hat man den Eindruck, dass solches Singen schmerzhaft sein muss. Crazy little Selah Sue ist da. Die 21-jährige Belgierin wurde von dem Sänger Milow in einer Talentshow entdeckt und macht seitdem ihre Musik - eine Mischung aus Hip-Hop, Reggae und Soul. Das ist abwechslungsreich und spannend.
Die Kleine spielt nicht nur richtig gut Gitarre, sondern singt wahlweise mit einer Röhre, dass es einem anders werden kann, oder mit sauberem Operndiva-Mezzosopran. So zu hören bei diversen Liedern auf Youtube, leider nur ab und an auf der Bühne. Vielleicht vor Aufregung, vielleicht weil das Publikum sitzt und unruhig Bier oder Espresso holen geht, klingt Selah Sues Stimme ein wenig gequält. Zusätzlich hüpft das Energiebündel zu viel über die Bühne (den starken, harten Hip-Hopper nimmt man ihr einfach nicht ab) und bringt bei den Balladen zu wenig Gefühl rüber. Irgendwie schafft sie es dann doch, den Zuschauern mit ihrem Song "Crazy Vibes" ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern: "Happiness, yes!". Man kann gespannt sein, was aus "Crazy little Sue" mit mehr Erfahrung und Gefühl für die eigene Stimme noch wird.
Nach dieser ersten, etwas übermütigen Demonstration nordischer Frauenpower wird die Bühne umgebaut. Noch mehr Zeit für das Publikum Getränke und Essen holen zu gehen, oder mal die WC-Container zu besuchen. Der Eindruck, dass es sich bisher um ein "Warten auf Tina" handelte, bestätigt sich, als die Dänin auf die Bühne kommt. Das Publikum liebt den blonden Engel mit dem schwarzem Paillettenkleid und dem rotem Jäckchen. Tina Dico (sympathisch, nett, freundlich, liebenswert, gutaussehend) erzählt in ihren Liedern mit faszinierender Soul-Altstimme Geschichten, wie sie jeder kennt: von gescheiterten Beziehungen, verpassten Möglichkeiten und der Lust am Leben.
Authentisch und gefühlvoll vorgetragen, bleiben die eingängigen Melodien noch lange im Ohr. Dabei bedienen sich ihre Songs bei altbewährtem: Liebeslieder im 6/8-tel Takt, ein bisschen Folk, ein bisschen Rock. Nichts Neues also. Tut trotzdem gut. Live variiert Dico ihre Stimme, singt, spricht, unterbricht. Zusätzlich kommt durch ihre Band Abwechslung auf die Bühne - Helgi Jonssons Posaunensoli fügen sich gut in den Gesamtklang ein, und sein Gesang (oft als Oberstimme zur Melodie) harmoniert mit Dicos vollem Alt. Helgi ist auch für die Auflockerungen zwischendurch zuständig, gibt er doch recht eigenwillige Liedtitel-Übersetzungen in seltsamem Deutsch von sich. Insgesamt steht da eine Band auf der Bühne, die Zufriedenheit und Freude ausstrahlt. Das Picknick-Publikum übernimmt diese Stimmung gerne, passt sie doch gut zu einem Freitagabend-Open-Air. So sehr Tina Dicos Lieder von innen wärmen, am Ende wird es kalt im Rosenfelspark. Das Publikum packt die Picknick-Decken ein und geht zufrieden, aber ein bisschen fröstelnd, nach Hause.
killerkatze
Spieldauer: Selah Sue: 55 Minuten / Tina Dico: 90 Minuten
Mit Selah Sue spielten:
Pieter Sam Saux (Bass)
Joachim Saerems (Keys)
Yannick Werther (Gitarre)
Stijn Cools (Drums)
Mit Tina Dico spielten:
Helgi Jonsson (Gesang, Posaune, Keys)
Dennis Ahlgren (Gitarre)
Janus Ringssted (Drums)
Krisitan Kold (Bass)
Stimmen-Festival, Lörrach
24.07.2010, ZMF Freiburg, Zirkuszelt:
Bodenhaftung gewahrt: Beseelte Vocal-Stradivari gets the Soul
James Morrison
Ungefähr wie ein beliebiger Antiheld von nebenan kommt der Chartknaller des vergangenen Jahres daher. Und besticht durch Professionalität ohne überflüssige Schnörkel. Der junge Herr Morrison scheint gut zu wissen, dass sein charismatisches Kapital im visuellen Bereich eher schmal ist und er mit entsprechendem Getue lange auf Aufnahme in den Charthimmel hätte warten dürfen. Also lässt er die Finger davon und greift stattdessen in die Saiten.
Doch auch damit wäre Morrison in seiner selbstgewählten, schnelllebigen Branche angesoulten Folkpops kaum weit gekommen, hierfür musste er tiefer in die Kiste greifen um etwas wirklich Eigenes, Unverwechselbares vorzuholen. Zu seinem großen Glück ruht in Morrisons Kehle ein durch frühkindlichen Keuchhusten wundersam deformiertes Stimmbandgewirr, das ihn mühelos zu einer Stradivari unter den Vokalinterpreten werden lässt. Von der Stradivari weiß kein Mensch, wie sie wohl geklungen haben mag, bevor Jahrhunderte der Verwitterung, des Holzwurms und gelegentlicher Abstürze sie zum begehrtesten Streichinstrument unserer Tage aufwerteten. Dagegen steht bei James Morrison unzweifelhaft fest, dass er vor seiner Atemwegserkrankung nicht im Geringsten zum Sänger taugte - seine Mama kann ein Liedchen davon singen.
Beseeltes Paar bei James Morrison.
Hier also liegt das Kapital dieses britischen Schnellstarters, der einst als Straßenmusiker begann und den man sich in Habitus und Stil noch immer ganz gut als solchen vorstellen kann. Und hierin liegt ein weiterer springender Punkt seiner Bühnenwirkung: Auch auf den Brettern des weitläufigen ZMF-Zirkuszelts gelingt ihm eine angenehm ebenerdig wirkende Kommunikation mit seinen Fans.
Das überwiegend weibliche, recht junggeratene Publikum kam so zu einem erfrischend untheatralisch gehaltenen Konzerterlebnis und entließ dessen Hauptakteur hernach unter weitgehendem Verzicht auf die Einforderung von Zugaben ebenso untheatralisch.
Wohin sich James Morrison zukünftig in musikalischer Hinsicht begeben könnte, deutete sich bereits im Laufe seines Auftritts an: Aus dem Chartgedöns der Eintags- und Gefälligkeitsmusik verabschiedete sich dieser eitelkeitsimune Musikant sukzessive, um sich mit eher bluesig gehaltenem Soulsound ein stabiles Plätzchen in weniger luftigen Musikersphären zu ersingen.
Patrick Widmann
Spieldauer: 100 Minuten
James Morrison
Zelt-Musik-Festival Freiburg
24.07.2010, ZMF Freiburg, Spiegelzelt:
Gesundmusik
Indie-rock-fusion-new-wave mit Get Well Soon
"Und meine Seele spannte weit ihre Flügel auf"... Wie beschreibt man die Musik von Konstantin Gropper alias "Get Well Soon"? Ein Versuch.
An diesem Abend ist es kalt. Wenigstens regnet es nicht. James Morrison spielt im Zirkuszelt und das Konzert von "Get Well Soon" an diesem vorletzten Tag des ZMFs stand erst recht spät fest. Liegt es daran, dass im Spiegelzelt kurz vor Konzertbeginn noch so viel Platz ist? Zeit, um sich die beeindruckende Anzahl Instrumente auf der Bühne anzuschauen: 6 Gitarren werden gezählt, 2 Bässe, Schlagzeug, Keyboard, Vibraphon, Marimbaphon, Trompete, Geige. Müssen sechs Musiker doch heute spielen, was Gropper in Eigenarbeit am PC zusammenkomponiert hat. Zu Anfang jedoch warten die Musiker auf mehr Publikum - und tatsächlich füllt sich das Zelt bis Konzertbeginn um 20.50 Uhr. Cosy.
Totale Konzentration.
Meine Erwartungen an dieses Konzert waren zweigeteilt. Einerseits war ich gespannt ob des großen Lobes angesichts seiner ersten CD und des ZMF Konzerts 2008, andererseits wollte ich einfach nur gute Musik hören, mich in die Klangwelt von Konstantin Gropper entführen lassen. Der Beginn des Konzerts nimmt die Zuschauer denn auch mit, Vogelgezwitscher ertönt: "It was a bright and beautiful morning in spring,…". Bei den ersten Tönen von "Seneca`s Silence" eine positive Überraschung - extrem sauber ausgesteuert und angenehm laut drängt die Melodie ins Zelt. Nicht immer war der Sound beim ZMF so gut. Eine Wohltat erstmal für die Ohren.
Konstantin Gropper und Band stellen an diesem Abend hauptsächlich Lieder des zweiten, ruhigeren Albums vor. Es ist, als ob er uns allen den Ärger von der Seele schreibt. Seine Arrangements so dicht, so unglaublich präzise, dass trotz der Vielfalt an Instrumenten und Klängen, Melodielinien und Pausen, alles genau da hinzugehören scheint. Als melancholisch-barok wurde diese symphonische Dichte der Lieder bezeichnet. So perfekt, dass es fast weht tut. Oder einem die Tränen in die Augen treibt. An das erste hoch gelobte Album ("Rest now, weary heart! You will get well soon"), heißt es, konnte Konstantin Gropper mit dem zweiten ("Vexations") nicht anschließen. Kritiker schreiben von zu perfekt. Zu glatt. Viel Lärm um nichts und daher auch langweilig. Jedoch zieht die Musik des "Gelehrten, hungrigen Herzens" (die Zeit) alle in ihren Bann, umschmeichelt sie, durchdringt sie mit dem tiefen Bariton des Konstantin Groppers oder erhebt sie mit elegischen Gesängen seiner Cousine Verena.
Auf der Bühne zum Leben erweckt und irgendwie lebendiger als aus der Konserve, ergänzen sich die Lieder beider Alben gut, wütender Rock und sanfte, schmale Arrangements wechseln sich ab, dafür werden auch mal Musiker von der Bühne geschickt. Und doch gibt es Brüche. Nach dem "Ihr seid wohl in Feierlaune"-Stück "Hat´s Missing" wird "Red Nose Day" angekündigt - als Weltpremiere, da noch nie auf einer Bühne gespielt. Der Trompeter (Gitarrist, Sänger, Percussionist) Max muss sich erst mal mit Bier Mut antrinken, und das "Hoffentlich klappt´s" von Konstantin trägt natürlich dazu bei, dass jetzt genauer hingehört wird. "Red Nose Day" klingt dann auch so: unsicher, verschämt. Gropper wird beim Applaus danach sogar rot... Inszeniert? Oder einfach kaum geprobt? Kann man das bei einem so perfektionistischen Musiker glauben? Beim anschließenden Stück "Burial at Sea" jedoch stimmt wieder alles, der PC bringt Meeresrauschen auf die Bühne, bringt sogar Mensch und Maschine in Einklang.
"Get Well Soon" treffen an diesem Abend den Nerv des sehr gemischten Publikums. Somit hatte auch der brave Junge auf der Bühne mitsamt Band einen gemütlichen Abend. Auch wenn es für den einen oder anderen sicher zu wenig rockig, zu lieblich, zu melancholisch war. Meine Erwartungen wurden erfüllt - rest now, weary heart, you will get well soon. Am meisten beeindruckten die Pausen. Aus voller Lautstärke heraus stoppt die Musik, Nachhall, Stille. So präzise gesetzt, lässt die Musik einen los, das Herz setzt einen Schlag aus, die Zeit verlangsamt. Für die Dauer dieser Pause ist man schwerelos. In diesem kurzen Moment fliegt die Seele.
killerkatze
Spieldauer: 85 Minuten
Homepage von Get Well Soon
Zelt-Musik-Festival Freiburg
23.07.2010, ZMF Freiburg, Spiegelzelt:
Wenn die Kerze dreimal klopft
Tok Tok Tok im Spiegelzelt
Zwei Konzerte zur Auswahl auf dem ZMF. Tok Tok Tok und Culcha Candela. Trennt sich hier das Publikum in jung&kreischend von alt&gesittet auf dem ZMF? Wie auch immer - das bestuhlte Konzert fängt im Spiegelzelt eine Stunde später an, wohl wegen der fehlenden Vorgruppe.
In einer Vierer Besetzung geht Tok Tok Tok an den Start. Gesang, Saxophon, Bass und Keyboard. Äh nein natürlich kein Keyboard sondern ein Fender Rhodes meine ich natürlich. Oder um genau zu sein: Tokunbo Akinro - Vocals; Morten Klein - Tenor & Soprano Sax, Drums; Christian Flohr - Acoustic Bass; Jens Gebel - Fender Rhodes.
Jetzt erklär ich Euch mal warum wir die Beatles covern.
Dann geht es los: "All the lonely people" rein durch Gesang und einem gehauchten Saxophon gespielt. Das würde meinem Ex-Nachbarn gefallen. Hat mir dieser doch beigebracht, dass ein Saxophon je schwieriger zu spielen wird desto weniger Luft verwendet wird. Das hat irgendwie was mit der Luftsäule zu tun die da so in dem Instrument schwingt. Je weniger Luft, desto schwieriger schwingt es. Für mich war ein Saxophon aber immer eine verbogene Digeridoo aus Blech. Und wird es wohl auch bleiben. Warum der Sax-Spieler dann auch dem Instrument wenig Luft gibt bleibt erst mal unklar. Vor allem wenn es dadurch schwieriger zu spielen ist. Erst beim Zuhören und umschauen wird einem klar, dass im Zelt schon beim ersten Lied das Publikum total gebannt ist. Hier traut sich niemand zu flüstern oder laut zu atmen. An reden ist gar nicht zu denken. Aha, also deshalb ist dass prima mit ganz wenig Luft so ein Blech-Digeridoo zum Schwingen zu bringen. Cooler Typ mit Glatze da vorne. Hut ab. Das bringt dann auch spontanen Szenenapplaus vom Publikum bei "Why don't we do it in a row". Wenn das Publikum schon nicht laut atmen darf, möchte der/die ZuhörerIn doch wenigstens mal die Hände benutzen. Bewegungsdrang muss sich Raum verschaffen.
Doch halt mal. Ist das nicht ein Beatles Konzert? War da nicht schon mal so ein Beatles Konzert hier auf dem ZMF? Stimmt, die Brothers haben letzte Woche Mittwoch Beatles gespielt und dazu Musiker eingeladen. Und wer war da Gast?
Richtig: TokTokTok. Und die präsentieren ihre neue CD "Revolution 69" mit Beatles Songs. Z.B. auch mit Taxman, welches auf beiden Veranstaltungen des ZMF vertreten war. Und wer ist im Publikum heute zu erspähen? Auch richtig: Die Brüder, also einer von denen. Da schließt sich der ZMF-Beatles-Kreis.
Tokunbo hat eine Wahnsinns Stimme. Einfach klar und tragend. Schnell ist auch vergeben, dass hier gecovert wird. Falls je Zweifel waren dass es passt - jetzt nicht mehr. Die Beatles Stücke passen einfach auf diese Band und diese Stimme. Ist ja auch im weitesten Sinne eine klassische Besetzung. Und trotz, oder vielleicht auch wegen ihrer langjährigen Erfahrung wirken die Musiker frisch und auch bescheiden. Fast mit Scham wird erzählt wie die einzelnen Stücke ausgewählt wurden. Es wirkt, als wären die Geschichten zwischen den Liedern noch nie erzählt worden. Überhaupt sind die Musiker recht mitteilsam, recht unaufdringlich aber spürbar redselig.
Musik wird handwerklich auf dem höchsten Niveau gemacht, kein Verspieler ist zu hören. Die Technik macht aber nicht immer mit. Irgendwie scheinen sich die Fraggles in der Monitorbox eingenistet zu haben und geben ihr eigenes Konzert ab. Im Publikum ist dies kaum zu hören, muss aber auf der Bühne stören. Und die Fraggles sollen auch den ganzen Abend in der Monitorbox bleiben. Wahrscheinlich ist es das drahtlose Höchstleistungsmikro, welches im Zirkuszelt nebenan den Culcha-Candela Gesang überträgt. Dieses Konzert macht sich auch mit seinen Bassläufen in den Songpausen im Spiegelzelt bemerkbar und lässt hier die Zeltwand pochern. Die Musiker nehmen es mit Humor und Bescheidenheit. Hier scheint sich eine Band gefunden zu haben, welche nicht so schnell aus der Fassung zu bringen ist. Es herrscht Harmonie. An einen besseren Freitagabend zum Instant-Abschalten nach einer echten Arbeitswoche ist nicht zu denken. So etwas ist nur das richtige Konzert wenn die Luft schon etwas raus ist. Wer noch einen Stau in irgendeiner Form hat, der ist sicher im Candela Zelt mit mehr Aggression und weniger Stühlen richtig. Im Spiegelzelt war alles Friede, Freude, Eierkuchen.
So dauert es im Konzert dann auch bis zum zweiten Set bis etwas kocht. Nach der Pause sind wie zu Beginn nur zwei Musiker auf der Bühne. Aber dieses Mal wird nicht nur geflüstert, sondern auch alle vorhandene Luft gegeben. Entweder direkt, oder übers Blech. Ein Saxophon-Solo pro Konzert ist OK. Vor allem wenn es erste Sahne ist. So hangelte sich TokTokTok gemütlich zum Höhepunkt und anschließend zum Ende des Konzerts. Aber natürlich nicht ohne Zugaben. Das Publikum ist seinerseits wiederum so emanzipiert, dass sich keiner erblödet und "Zugabe" ruft. Erstaunlich. Doch ist eh klar welches Spiel hier läuft. Es gibt ja zwei Zugaben, ohne dass irgendein Mensch diese so betitelt hätte. Damit geht ein reifes Konzert zu Ende.
Pretender #1
Zuschauer: 500 ? Spiegelzelt ist voll bestuhlt
Spieldauer: 2 Stunden (netto)
Tok Tok Tok
Zelt-Musik-Festival Freiburg
18.07.2010, ZMF Freiburg, Spiegelzelt:
Los Cojones und die toten Amerikaner
Ein a-cappella Abend mit Freunden
Auf der Homepage des ZMFs findet sich unter "Info" ein Hinweis auf den Opfinger Baggersee als nächstgelegener Badesee zum Festivalgelände. Dieser Baggersee ist Schauplatz einer Anekdote, die jeder Biostudent in Freiburg kennt und die sich jedes Jahr wiederholt. Während der zoologischen Exkursion an den Opfinger Baggersee erfahren die Studenten allerlei Wissenswertes über die Fauna eines Sees und seines Uferbereiches. Unter anderem ist vom amerikanischen Flusskrebs (Orconectes limosus) die Rede, der irgendwann mal aus Nordamerika eingeschleppt wurde. Dieser "***-Ami" bringt in Europa die einheimischen Krebse um, indem er die "Krebspest" verbreitet, selber jedoch immun ist. Der zuständige Professor rät daher zur Jagd auf den Eindringling, denn: "Nur ein toter Amerikaner ist ein guter Amerikaner." Nun aber zurück auf das Festivalgelände.
Sieben coole Typen…
Im seit Wochen ausverkauften Spiegelzelt, bei ausnahmsweise angenehmen Temperaturen, treffen sich Jung und Alt, Freunde und Verwandte zum familienfreundlichen Filmabend. Gezeigt wird: a-cappella Filmmusik. Die sieben Sänger von "Los Cojones" eröffnen ihr Programm mit der Biene Maja, um anschließend in die Alpen zu Heidi und dem Ziegenpeter (Peter Beck, Bariton) zu reisen. Das Programm des Abends heißt "Cinematic Tour 2010". Da die Jungs auf der Bühne laut eigener Einschätzung allerdings ihre liebe Not mit dem Motto hatten, wurde das Programm mal eben um "tote Amerikaner" erweitert. Frei nach "was nicht passt, wird passend gemacht" entstehen so recht skurrile Überleitungen, die den Charme der ersten Hälfte ausmachen: außer den toten Amerikanern (Elvis Presley, Michael Jackson) werden auch "Take on me" der norwegischen Gruppe a-ha und die "Fata Morgana" der Ersten Allgemeinen Verunsicherung irgendwie in den filmischen Kontext gebracht. Die Qualität des Gesangs rückt damit (glücklicherweise) ein wenig in den Hintergrund. Der eine oder andere schiefe Ton (und manchmal auch mehrere) schleicht sich ein, trotzdem merkt man dem Klang der Stimmen an, dass sie schon seit Jahren miteinander singen. Das Filmmusikmedley vor der Pause überzeugt nicht nur durch die unschlagbare Rhythmussicherheit der Sänger (Taktgeber Cornelius Struck - Tenor), sondern auch durch die Vielfalt der verarbeiteten Melodien (die Autorin gab sich nach sieben erkannten Melodien geschlagen).
... völlig durchgeknallt.
Wer sind Los Cojones? In Kurzversion: 1996 treffen sich sieben Freiburger Studenten und beschließen zu singen. Irgendwie haben die Sänger es bis heute geschafft, sich jedes Jahr zum Singen zu treffen. Und sei es Backstage beim ZMF.
Nach der Pause waren die Schokofrüchte (als Ersatz für Popcorn) fast ausverkauft, das Publikum damit gestärkt für die zweite Hälfte. Mitreißend geht es mit "Billy Jean" von Michael Jackson, "der sich letztes Jahr überraschend fürs tote Amerikaner Programm qualifiziert hat", weiter. Moonwalk-Versuche des Meister-Stimmenimitators Christoph Croener scheitern zwar kläglich, dafür ist der Lead-Gesang in der a-cappella Version (nicht nur bei diesem Lied) ganz passabel. Spätestens jetzt ist das Publikum aufgetaut und die Show steuert steil auf ihren Höhepunkt zu - Volksmusik im Spiegelzelt! Bei "Aus Böhmen kommt die Musik" singt das Publikum aus vollem Halse mit, es wird geschunkelt, dass das Zelt wackelt. Schade nur, dass der Funke trotz milde gestimmtem Publikum nicht öfter übergesprungen ist. Mehrere Zugaben später steht fest: tote Amerikaner, Schokofrüchte und viel Spaß am Gesang - mehr braucht es nicht für einen gelungenen Filmabend. Ein wenig mehr Klangharmonie hätte diesem Konzertabend jedoch nicht geschadet.
killerkatze
Zuschauer: ausverkauft
Spieldauer: 130 Minuten (brutto, mit Pause)
Los Cojones sind:
Tenor: Christoph Croener, Frank Bühner, Cornelius Struck
Bariton: Markus Förster, Peter Beck
Bass: Moritz Weber-Bleyle, Jan Kitzler
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
14.07.2010, ZMF Freiburg, Zirkuszelt:
Die Brüder rufen und die Käfer kommen
The Beatles Night presented by The Brothers
Nie war so wenig los auf dem Zelt-Musik-Festival, oder auch kurz ZMF genannt. Das überall angekündigte starke Gewitter hatte sicherlich einen großen Anteil. Die Berichterstattung hatte sich schon früh eingefunden um die Lage vor Ort zu erkunden. Kein Gewitter in Sicht. Doch auch dieses Mal bestätigte sich früher gemachte Erfahrung ein wiederholtes Mal: Nicht früher Vogel macht die Show, sondern Präsenz zum richtigen Zeitpunkt. Bei diesem Konzert gibt es kaum nicht zahlende Zaungäste. Zu nass scheint die Wiese. Aber alle kartenbesitzende Gäste erscheinen pünktlich zu Konzertbeginn. So füllt sich auch schnell das Zelt.
Trotz leichter Abkühlung draußen ist das Konzertzelt dank des Sommertages schon auf Konzertstimmung vorgeheizt. Kurz nach acht beginnt die übliche und liebgewonnene Ankündigung eines ZMF Konzertes. Dann kamen die Lokalmatadoren - The Brothers -mit den ersten Beatles Stücken. Die kurze Hose machte sich nach wenigen Augenblicken im Zelt mehr als bezahlt. Nach der magischen mysterischen Tour, wurde spätestens bei "Taxman" klar das die Brüder ohne Hilfe nicht an das Original heran reichen. Die Idee und das Talent ist da, das Gefühl noch nicht. Aber was ist eine Special Night ohne Gäste?
Schon im fünften Stück wurde der erste Gastmusiker auf die Bühne gebeten. Francesco Wilking von Tele aus Berlin gab seine Interpretation von John Lennon's Stücken zum Besten. Und siehe da, mit der kleinen Hilfe von außen kam gleich der Sound der Beatles ins Zelt. Als hätte der kleine Tick gefehlt um das Käferglück zu starten.
Gleich große Klassiker wie "Crucify me" und "Imagine" wurden jetzt aufgespielt. Und genau das sind die Beatles. Bekannte Klassiker in Massen. Dennoch bleibt das Gefühl eines zu langsam tickenden Metronoms im Hintergrund. Die Lieder hören sich langsamer als normal an. Interessant ob heute die Lieder einen Takt verzögert sind, oder ob es einfach zu heiß war für eine korrekte Wahrnehmung. Gefühlte 36°C und kein Ventilator.
Nein, ich bin hier die Rampe.
Selbst der kleine andalusische Fächer bringt nur stellenweise Abkühlung. Das Gefühl der Gemütlichkeit bleibt. Dies wurde noch verstärkt als das preisgekrönte ZMF Xylophon Trio Jascha, Gregor und Lorenz z.B. "Lady Madonna" instrumental darbot. Ob aus Dankbarkeit oder Überraschung, das Publikum bot nach den Klöppelstücken soviel Applaus wie nie zuvor heute Abend.
Notizenfreundlich bot sich das Zelt bis jetzt. Die Lichtshow war noch übersichtlich und das Tageslicht quoll durch einzelne Zeltöffnungen flutend hinein. Aber selbst der längste Tag geht zu Ende. Dann wurde die Nacht erst richtig eröffnet, TocTocToc kam zu zweit auf die Bühne. Lieder in eigener Interpretation wie "Come together" waren eindrucksvoll.
Doch so richtig zu kochen brachte das Publikum dann erst die geballte Ladung jahrelanger Medienerfahrung: Elmar Hörig kam. Gleich zu Beginn stellte er klar, dass er noch immer weiß wie die Glocke zu schlagen ist. Eigentlich recht einfach, ein Stab, eine Glocke und los geht's. Dazu gehört die nötige Portion Enthusiasmus. Dass er nicht nur die Glocke beherrscht, sondern auch die Gitarre und Gesang, rundete natürlich ab.
Ring your bell.
Eine Pause später fingen die Musiker an, sich wie im Taubenschlag abzuwechseln. Das Cecile Verny Quartet wurde leider richtigerweise als verschnupfte Stimme angekündigt. Sehr Jazzig, aber gut? Nein. Denn die Stimme war nur ein Bruchteil ihrer Möglichkeit und deshalb nicht präsent. Schade da hätte mehr drin sein können. So war der Auftritt fast ein kurzer Tiefpunkt. Aber jetzt begann sich das Musikerrad zur drehen. Fools Garden kam und auch Julia Neigel gab sich als kurz vorher angekündigter Überraschungsgast die Ehre. Offensichtlich war es das Ziel der Brüder die Bühne so voll wie möglich zu bekommen. Und sicherlich ist diese Beatles-Night der Auftritt mit dem besten Band/Musiker Verhältnis auf dem ganzen ZMF. Es kamen noch Shane Brady, Sascha Bandik und die Oli Meier von Fireworks of Rock dazu. Damit waren viele Hochkaräter in Stimme und Stimmung vertreten.
Mehr Musiker geht wirklich nicht.
Dass die Musiker Spaß an der Musik und am Auftritt hatten war deutlich spürbar. Hier wurde kein Programm runter gespult, sondern Lieblingsstücke zum Besten gegeben und gerne Zugaben gespielt. Klassisch anzuschauen war bei der Zugabe das "Rampensau"-Duell zwischen Oli M. und Julia N.. Aus diesem zog sich der Mann dann aber schnell, bestimmt aus guter Erziehung, zurück. Endlich trauen sich die Sänger mal auf der Bühne was und stellen sich nicht nur hinters Mikro.
Natürlich musste es dann noch zum Schluss die Stücke wie "Hey Jude" zum mitsingen geben und nach ein paar Zugaben war dann auch dieser Abend zu Ende. Wohlig, aber zu Ende.
Pretender #1
Zuschauer: 1500
Spieldauer: 2,5 Stunden
The Brothers
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
17.07.2010, ZMF Freiburg, Zirkuszelt:
Wo bleibt die Innovation?
Simple Minds (mindestens) 10 Jahre zu spät
Die WM ist gerade mal eine knappe Woche vorbei (wobei nach der WM vor der WM ist - im Moment spielen die U20-Juniorinnen in Deutschland um den Titel), der Heimatredakteur hat den Aufenthalt im Außenstudio am 28. Breitengrad beendet und treibt sich schon wieder 20 Grad weiter nördlich rum und erlebt den ersten Tag seit Wochen unter 25° Celsius. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für ein Konzert im Zelt, das in den letzten Tagen wohl eher einer Sauna glich.
Doch zunächst wird das kulinarische Angebot auf dem ZMF genutzt - endlich mal wieder keinen Fisch - und man wundert sich, dass es keine Coca-, sondern "nur" noch Afri-Cola gibt. Spekulationen werden angestellt, ob es der Politischen Korrektheit geschuldet oder Afri-Cola im Einkauf einfach billiger ist, vulgo den Marktgesetzen folgend. Doch es bleibt bei den Spekulationen und wir betreten das Zirkuszelt.
Fünf Minuten zu früh trat vermutlich der unvermeintliche Alex Heisler auf die Bühne, der Autor befand sich gerade noch im nicht gekachelten Nebencontainer - als er durch das offene Fenster hörte, es habe zehn Jahre gedauert, bis sie es endlich geschafft hätten, die Simple Minds aufs ZMF zu bekommen. Im Verlauf des Abends sollte sich herausstellen: Zehn Jahre zu lange.
Als die Combo um Sänger Jim Kerr einige Minuten verspätet mit "Satisfy Yourself" den Abend eröffnet, lässt zunächst einmal der Sound im Zelt viele Wünsche offen. Technik nach der wir uns früher die Finger geschleckt haben steht dem Mischer zur Verfügung, aber er macht nichts daraus. Auch die Erwartung, dass er es im Lauf der ersten Stücke auf die Reihe bekommt, erfüllt sich leider nicht, der Sound bleibt die kompletten zwei Stunden schlecht, der Gesang ist kaum zu verstehen, selbst das Keyboard klingt beim kurzen Solo ("Alive and Kicking") schlecht - eine Kunst, die man dem Mann am Mischpult erstmal nachmachen muss.
"Wie blöd sich die Schotten eigentlich vorkommen müssen, vor rund 2000 Leuten zu spielen", geht uns durch den Kopf, haben sie in ihren besten Zeiten doch locker mal vor den zehnfachen Menge an Leuten ihre Songs zum Besten gegeben. Und genau das bringen sie auch rüber - selten hat der Autor eine lustlosere Band auf einer Bühne gesehen. Jim Kerr fällt mehrfach das Mikro aus der Hand, und seine Versuche, das Publikum zum Mitsingen zu bewegen - wohl weil er selbst keine Lust hat zu singen - schlagen zumeist fehl. Als wir uns nach gut einer Dreiviertelstunde umsehen, schauen wir in viele gelangweilte, fragende Gesichter.
Der Basser, Eddie Duffy, post unentwegt herum und grinst blöd - weit entfernt von der stoischen Gelassenheit resp. Coolness, die man von Männern und Frauen am Bass gewohnt ist, sie nachgerade erwartet.
Auf Jahrmärkten im letzten Jahrhundert wurden Behinderte, "Neger" und sonstige exotische Exemplare der Gattung homo sapiens ausgestellt. Und genau daran erinnert Sarah Brown, die Backround-Sängerin, die genauso vorgeführt wird und mit ihrer völlig übertriebenen Schminke zu vertuschen versucht, dass sie ihre besten Tage auch schon hinter sich hat.
Mit "Alive an Kicking" und einem Medley der besten Simple Minds-Stücke endet der Abend. Jim Kerr meint: "We come back and see you again." Unsere Antwort wird er wohl nicht gehört haben: Never!
jh
PS: Aufgrund einer Klausel, die die Fotografin vor dem Konzert unterschreiben musste, dürfen wir Bilder vom Konzert nur drei Monate lang online belassen. Als unverbesserliche Legalisten haben wir diese also gelöscht. jh
Zuschauer: ca. 2000
Spieldauer: 2 Stunden
Simple Minds sind:
Vocals: Jim Kerr
Bass: Eddie Duffy
Gitarre: Charlie Burchill
Schlagzeug: Mel Gaynor
Keys: Andy Gillespie
Backing Vocals: Sarah Brown
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
17.07.2010, Montreux, Miles Davis Hall:
Im Duell: Glocken vs. Wasserhahn
Cocorosie / The Broken Bells beim legendären Jazz-Festival
Wenn Glocken mal kaputt gehen, so leidet auf alle Fälle die Tonfülle und mit etwas Glück gibt es fortan noch ein bisschen Geschepper als Beiklang. Letzteres war beim Auftritt der Broken Bells in Montreux nicht zu hören und auch Ersteres war nicht durchgängig gegeben. Über Glocken ist des Weiteren bekannt, dass eine jede ihre eigene, unverwechselbare Klangfärbung besitzt, doch auch dieses Merkmal ist den Broken Bells weitgehend abhanden gekommen.
Sie präsentierten stattdessen ein Konglomerat aus verschiedenen schöngeistigen Popprodukten der Achtzigerjahre: Von Pink Floyd über Mike Oldfield bis zu Mark Hollis wurde alles Mögliche verwurstet, durch den Wolf gedreht und zur Oberflächenglättung in ein blankglänzendes Gedärm elektronisch generierter Sounds aus dem aktuellen Jahrzehnt gepackt.
In einem Punkt gleichen die Broken Bells jedoch der namenspendenden geborstenen Glocke aufs Haar: Beide haben den Zenit ihres Daseins - im Fall der Bells gerade mal nach kaum zweijährigem Bestehen - unwiderruflich überschritten. Was allerdings auf die beteiligten Musiker durchaus nicht zutrifft: Alles gestandene Vollprofis, die ihr Repertoire inklusive durchdacht gesteuerter Emotionalität meisterhaft darboten. Insbesondere die zentralen Figuren Brian Burton und James Mercer haben in früheren Bandprojekten längst umfassend bewiesen, dass sie musikalisch auf eigenen Füßen stehen können.
Die Broken Bell'sche Art der Aufbereitung der Achtzigerjahre für das neue Jahrtausend ist zumindest in kommerzieller Hinsicht geradezu ein Akt der Vernunft, wie sich auch in Montreux zeigte. Heerscharen modebewusster, angejupter Jungtwens, die überwiegend pärchenweise angetreten waren, schienen - dem Bumbumsound ihrer Teeniezeit soeben entwachsen - auf solches nur gewartet zu haben und zeigten sich begeistert.
Im krassen Gegensatz zu den Broken Bells standen dagegen zwei Schwestern, die sich unverfänglich Cocorosie nennen und ihren Auftritt unmittelbar vor den Broken Bells lieferten: Diese beiden außerordentlich durchgeknallt-verqueren Genies verzichteten gänzlich auf das Wiederkäuen musikalischer Altlasten. Wahrhaft innovativ beziehen sie ihre Anleihen aus rostigen Wasserhähnen, knarzenden Türen sowie einsam klagendem Nachtgetier.
Cocorosie: Transgendernd zwischen Expressionismus und Dada. (Foto: MJF/Matt Green)
Sucht man dort nach historischen Anleihen, so findet man diese eher in der anachronistischen Wiederbelebung eines weitgehend verschwundenen Kunstverständnisses aus der Zeit zwischen Expressionismus und Dadaismus, das der authentischen und unmittelbaren Ausdruckhaftigkeit höchste Priorität einräumte. Auf dieses Kunstverständnis geht auch der zeitgleich entstandene Jazz, als Musikstil ebenso wie als Lebenshaltung, zurück. Insofern sind Cocorosie auch als ausgewiesene Nicht-Jazzerinnen geradezu prädestiniert, das Montreux Jazz Festival mit ihren Stücken zu bereichern.
Die Berufung der Broken Bells auf dieses Festival scheint indessen auf die in Veranstalterkreisen offenbar vorherrschende Ansicht zu verweisen, mit Jazz sei heute kein Blumentopf mehr zu gewinnen.
Patrick Widmann
Montreux Jazz Festival
08.07.2010, Montreux, Auditorium Stravinski:
Elektro trifft auf Jazz und bildet Lounge
Massive Attack beim legendären Montreux Jazz Festival
Montreux Jazz Festival, was heißt das schon? Durch die einschlägige frühjugendliche Prägung des Autors auf Hippie-Musik ist Montreux natürlich mit Jimi Hendrix verbunden. Und natürlich wer könnte es je vergessen: "Smoke on the Water" von Deep Purple. Damit kann jeder in einem Laden den Gitarrenverkäufer zum Wahnsinn treiben. Doch dieses Mal sollte in Montreux kein Hippie-Fest sein. Auch sollten keine Gebäude abgefackelt werden. Tja, Rauch auf dem Genfer See kann man sich auch ohne Feuer vorstellen. Heute gibt es Elektro Musik, von Massive Attack.
Passt Massive Attack auf ein Jazz Festival? Das war die erste Frage die ich mir stellte als ich das Programm las. Kategorisch erst einmal nein. Denn Massive Attack kann als Electronik oder Trip-Hop Band eingestuft werden. Auch wenn die Band sich gegen eine Kategorisierung wehrt: "Wir sind doch einzigartig...". Trip Hop wiederum hat seine Wurzeln im Hip-Hop, aber auch im Soul, Funk und - aha - Jazz. Also ist Massive Attack doch richtig auf einem Jazz-Festival? Eine Frage die sich jeder selbst beantworten darf. Ich war froh einen solch lang ersehnten Auftritt dieser Band in solch phänomenaler Umgebung erleben zu dürfen.
Massive Attack (Foto: MJF).
Doch ohne Akkreditierung kein Konzert, also im Media Center kurz das Ticket geholt. Hat auch den praktischen Vorteil eines Zugang-Bändeles, welches ums Handgelenk kam. Somit war das Schlange stehen für normale Ticketkäufer schon einmal passe. Ernüchterung gab es aber sogleich für den Euro-Chauvinisten. Befremdlich, aber auf dem internationalen Festival wurden keine Euronen oder andere Plastikzahlungsmittel angenommen. Ist es doch im deutschsprachigen Raum der Schweiz in der Gastro durchaus üblich. Aber wir sind ja in Frankreich, nein in der französischsprachigen Schweiz. So waren schnell die mitgebrachten Francs für die Basisversorgung aufgebraucht. Egal, schnell lokale Währung am Bankroboter eingetauscht. Und wer UBS nicht für den lokalen Paketdienst, sondern richtigerweise für eine Bank hält, muss auch nicht zum nächsten Bankautomat laufen.
Eine harmlose Vorgruppe namens Martina Topley-Bird lässt die Lust auf Festivalgelände zu gehen unwiderstehlich werden. Und der Hunger ruft nach Merquez. Trotz des im Sommer angenehm kühlen Auditorium, es kann die nicht gefallende Musik kaum ausgleichen. In der Retrospektive sicher keine schlechte Musikerin, nur traf sie nicht den Geschmack des Abends. Massive Attack hat sich dennoch eine Saison mit dieser Vorband verknüpft.
Dann kommt aber der Hauptakt und Massive Attack zeigt wie ein gelungenes Intro aufgebaut ist. Die Band webt einen Klangteppich Note für Note, bis die Musik auf dem ganzen Rücken kitzelt. Die Ohren sind verzückt. Denn der Sound ist vom Feinsten. Auch im französischen Teil der Schweiz wird auf Qualität gesetzt. Die Lautsprecher und Anlage sind von höchster Güte und bieten einen durchdringenden aber nicht erdrückenden Bass und dazu klare Höhen. Prima.
Offensichtlich hat Massive Attack schon im ersten Lied das Bedürfnis ein Kompendium an Drogen per Laufschrift dem Publikum zu präsentieren. Ob nun eine vollständige Liste der von der Band verzehrten Substanzen dargestellt ist, oder ob das Publikum angeregt werden soll neue Wege zu beschreiten, geht aus der Aufzählung im ersten Lied nicht hervor. Auch hier darf sich wohl jeder sein eigenes Urteil bilden.
Die Laufschrift-Leinwand im Hintergrund der Musiker wird als gekonnte Unterstützung für die Lieder genutzt. Sei es mit Wörterreihen, politisch angehauchten Informationen wie z.B. über den unterschiedlichen Wasserverbrauch der Nationen auf Erden oder verkauften Waffen in die dritte Welt. Selten ist die Informationsdichte in einem "Pop"-Konzert höher.
Aber auch eindrucksvolle Lichteffekte werden mit der leuchtstarken Tafel produziert. Weiß, grün und rot strahlt es daher und läuft in alle Richtungen. Bis die Matrix aufbricht und Nullen und Einsen vom Himmel laufen.
Erst zum sechsten Lied kommt eine Komposition der neuen Platte Heligoland zum Besten. Damit wird deutlich, dass Massive Attack mittlerweile auf sechs Studioalben zurück greifen können. Dem Publikum wird die Freude gemacht dass aus jeder Schaffensphase mindestens ein Liedbeispiel ausgewählt wird. Und alle Lieder werden in guter handwerklicher Manier dargeboten, leicht anders interpretiert als im Studio aber immer kontrolliert und gut zu erkennen.
Zu jedem Zeitpunkt des Konzerts hat Massive Attack ihr dankbares Publikum im Griff. Einfach, denn sie spielen ja ihre "Gassenhauer". Tanzbar wird es erst ab der Mitte des Konzerts So ist das auch mit der chilligen Elektromusik. Es dauert eben immer eine Weile bis die Statik sich auflädt und die Entladung stattfinden kann. Was bleibt ist ein gut gemachtes Konzert mit einzigartiger Umgebung und Atmosphäre, wenn auch ohne die Höhepunkte und Dynamik, welche ein Live-Konzert wirklich ausmachen. So bleibt das Gefühl in einer guten Lounge am See gewesen zu sein.
Pretender #1
Spieldauer: 85 Minuten
Montreux Jazz Festival
Massive Attack
15.07.2010, ZMF Freiburg, Zirkuszelt
Wenn ein Ehepaar und ein gut gekleideter Herr Musik machen
Überraschende Support Band und starker Hauptact
Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viel Potential die ewig abschätzig belächelten 80er offenbar für die aktuelle Musikszene haben (müssen). Das Londoner Trio "We have Band" eröffnete den Abend gekonnt durch das gesamte Repertoire aus Wave, Dance und Electro bis hin zur Italo Disco. Die Combo besteht aus dem Ehepaar DeDe und Thomas dazu gesellt sich Darren. Dass sie mehr können als sich nur einen coolen Bandnamen geben, lies nicht lange auf sich warten. In einigen Songs stellten sie die Tanzbarkeit ihres Schaffens unter Beweis, aber auch das ist nur eine Seite des Trios. Tatsächlich errichten Songs wie "Buffet" und "Piano" einen komplexeren Songkosmos, in dem Joy Division, OMD und die Talking Heads herum spuken.
Anbetung des Percussion-Gottes.
Der Sound schwankt irgendwo zwischen Indie-Rock und -Pop mit ein paar dicken Elektronikanleihen aus den guten alten 80ern. Groovig, verspielt und gern mal hypnotisch hymnisch, stellenweise auch irgendwie bewusst unfertig, hatte man manchmal das Gefühl. Also schwer einzuordnen, aber im Allgemeinen sehr ansteckend. Die wummernden 80er-Bassläufe trafen auf das interessante Gesangsspiel von Darren, Thomas und DeDe und luden zum Tanz ein. Generell ist das Wechselspiel zwischen diesen drei unterschiedlichen Stimmen einer der Motoren der gelungenen Darbietung. Man beschreitet den Gesang unterschiedlich, wechselt sich dabei ständig ab und bereichert alles mit ordentlich Backingvocals, was dem ganzen einen gewissen Drive gibt. Fazit: Absolut empfehlenswert und angenehm überraschend.
Lukas Wooller am Keyboard.
Das Publikum hingegen wartete sehnlichst auf den Hauptact des heutigen Abends. Die fünf Newcastler Jungs um Frontman Paul Smith ließen auch nicht lange auf sich warten und machten mit Ihrem ersten Song "Signal an Sign" klar, dass es ein warmer, lauter und rockiger Abend werden wird. Wobei es ehrlich gesagt schwer fällt diese Band als Rockband zu bezeichnen. Eher würde man sie in die Schublade Indie-Pop-Rock stecken, da die Songs oft den Hang zum Hymnischen und Melodiösen haben. Sei es drum, was die Engländer mit Ihrem mittlerweile dritten Album abliefern ist klasse, da sich nahezu jede Note in den Gehörgängen festsetzt. Beim zweiten Song "Wraithlike" greift der Hochdruckperformer zum Megafon und zeigt geballte Energie, sich vor fremden Leuten die Seele aus dem Leib zu schreien. Keyboarder Lukas Wooller am linken Bühnenrand kann seinem Tempo definitiv standhalten, während die drei restlichen Jungs ohne viel Bewegung ihren Beitrag zu diesem unvergleichlichen Popsound liefern. Schnelle Gitarrenbeats untermalt von Schlagzeug und Synthesizer mixen einen unverkennbaren Maximo Park-Sound.
Paul Smith mit Kulleraugen.
Eines muss man Paul Smith in seinem schwarzen Anzug mit Krawatte und Hut lassen, er weiß wie er seine Anhänger glücklich stimmen kann. Ein paar geübte Sätze auf Deutsch und schon liegen sie ihm zu Füßen. Mit "Dies ist ein Liebeslied" macht er vor allem die Mädels zu "Questing, Not Coasting" verrückt. Seine Mimik und Gestik sind auf Hochtouren wenn er mit ihnen flirtet. Selbstbewusst schreit, springt und leidet sich Mr. Smith durch jeden Song und bedankt sich artig für den Applaus, dies macht ihn zum Vorzeige-Frontman. Nach 18 Liedern und 2 Zugaben ist der Abend dann auch gelaufen, das Herz hätte sich noch das ein oder andere mehr gewünscht, das Pfeifen in den Ohren war der Meinung, es reicht!
sw
Spieldauer:
We have Band: 40 Minuten
Maximo Park: 70 Minuten
Homepage von We Have Band
Homepage von Maximo Park
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
09.07.2010, ZMF Freiburg, Zirkuszelt
Dr. Boerne und Mister Hyde
Soundtrack seiner Kindheit - Jan Josef Liefers auf dem ZMF
"Unter mein Messer kommt kein totes Gemüse", kommentiert die heutige Fotografin und frischgebackene Ärztin meinen Sezierversuch eines gebackenen Champignons (ist da wirklich Champignon drin?). Dieser Satz hätte ebenso gut von Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne stammen können, dem beliebten Pathologen des Münsteraner Tatorts und Jan Josef Liefers Alter Ego. Wie viel Liefers steckt in Boerne? Auch das gilt es herauszufinden.
Liefers Rebellion für die Freiheit.
Im ausverkauften Zirkuszelt steht auch heute wieder die Luft. Ein Grund mehr sich auf die von Jan Josef geführte Zeitreise einzulassen - zurück in die siebziger Jahre der DDR. "Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Es war einmal…" spricht das Sandmännchen (?) vom Band und schon geht's gar nicht sanftmütig, sondern mit "Türen öffnen sich zur Stadt" von den Puhdys sehr rockig zu. 1970 war Jan Josef sechs Jahre alt, wurde gerade eingeschult und bekam seinen ersten Eintrag: "Jan prügelt sich vor dem Garderobenschrank und wirft Elke um." Launig, witzig, intelligent präsentiert sich Liefers und beruhigt mich und andere, die den Opener nicht kannten mit: "Deshalb seid ihr ja hier." Und tatsächlich kommt eine Mischung daher, die man so nirgendwo finden würde: viel DDR-Rock, ein paar Balladen, das Ganze kombiniert mit O-Ton Einspielungen der beiden Staatsratsvorsitzenden Ulbricht und Honecker, passenden Video- und Bildersequenzen und alles eingebettet in die Jahre 1970 bis 1989, der Kindheit des Fernsehstars.
Liefers versucht einen Rundumschlag der DDR Geschichte - von den Engpässen in der Lebensmittelversorgung über das Fernweh, Sexszenen in den Propagandafilmen, der Stagnation in den Jahren vor der Wende. Unfreiwillig komisch die Ton-Einspielungen der Staatsratsvorsitzenden zur Beatmusik und Moral in der DDR. Auch Erzählungen über Pioniermanöver und Vorschriften zum Verhalten bei fallenden Atombomben erfreuen das Publikum. Manches erscheint seltsam, kurios und auch erschreckend, ist man sich doch bewusst, dass dieses System ein Teil der neueren deutschen Geschichte ist.
Als ich wie ein Vogel war.
Der launigen Moderation ist die Musik gegenüber gestellt - kraftvoller Rock mit eindrucksvollen Texten, die mit sehr viel Emotion und Einsatz gesungen werden. Das Pointenfeuerwerk der Moderation zieht beim Publikum, aber diese Lieder mit Trauer, Wut, Verzweiflung und Sehnsucht gesungen, gehen unter die Haut. Liefers Band Oblivion beeindruckt bei "Als ich wie ein Vogel war" oder "Die Ferne" mit sattem Sound und starken Gitarrenriffs. Natürlich darf auch "Schlohweißer Tag" von Silly nicht fehlen - Liefers ist schließlich mit der Frontfrau von Silly, Anna Loos, verheiratet. Was sie wohl zur Charmoffensive ihres Jans sagt? Der erzählt von den Mädchen, die er mit seinem Gitarrenspiel beeindrucken wollte - greift selbst zur Gitarre und kokettiert, indem er das Karat-Lied "Und ich liebe Dich" gleich wieder abbricht (da kommt der Schauspieler durch!). Natürlich bettelt das Publikum, Jan macht aber erst weiter, nachdem er sich ein hübsches Mädel auf die Bühne geholt hat... könnte kitschig wirken, tut es aber nicht. "Und ich liebe Dich" wird so ehrlich gesungen... das war einfach nur schön (wir vergessen nicht, dass die Schreiberin eine Frau ist).
Nach zwei Stunden ist klar: diese Show lebt vom Mensch und Schauspieler Liefers, in dem auch ein bisschen Boerne steckt. Zusätzlich zu seiner unglaublichen Bühnenpräsenz singt Jan Josef auch noch gut und wird dabei von einer tollen Band (deren Musiker alle aus dem Westen stammen) unterstützt. Dabei bleibt er authentisch und wirkt eher wie der Typ von Nebenan. Nach mehreren enthusiastisch geforderten Zugaben wird das Publikum mit "Leb Deinen Traum" unter den Sternenhimmel entlassen.
killerkatze
Spieldauer: 120 Minuten
Oblivion sind:
Jan Josef Liefers (Gesang + Gitarre)
Jens Nickel (Gitarre)
Johann Weiß (Gitarre)
Christian Hon Adameit (Bass)
Gunter Papperitz (Orgel, Piano)
Timon Fenner (Schlagzeug)
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
08.07.2010, ZMF Freiburg, Spiegelzelt
Wohlfühloase Biosauna
Stefan Gwildis auf dem ZMF
ZMF 2010 - die Veranstalter scheinen alles richtig gemacht zu haben: die WM Euphorie ist nach dem verlorenen Halbfinale etwas gedämpft, der Termin so spät wie nie und die bisher gute Wetterprognose verspricht ungetrübten Musikgenuss. Zur Eröffnung brennt die Sonne vom Himmel und die lokale Politikprominenz (die Herren Salomon und von Kirchbach) werden nicht beneidet, als sie im Jackett durch den Festplatzstaub schlendern... Bei den Essensangeboten bleibt alles wie immer - sowieso hält man sich bei der Hitze lieber an seinem Getränk fest. Und eigentlich hätte man die schönen Buntglasfenster des Spiegelzelts heute gerne von außen betrachtet. Da "La Brass Banda" aber einen Höllenlärm aus dem Zirkuszelt herüberschickt, bleibt uns nichts anderes übrig - hinein ins Tropengewächshaus.
Mit "Hallelujah meine Brüder und Schwestern", beginnt Stefan Gwildis sein Konzert, um gleich darauf festzustellen, dass bei dieser Sauna doch an einen Aufguss zu denken wäre... Sein Publikum (Typ lockerer Akademiker) reagiert erfreut. Wir denken uns... erstmal nichts und bemühen uns, ohne allgegenwärtigen roten ZMF-Fächer Luft zu bekommen. Stefan hilft und dreht einen der beiden Bühnenventilatoren ins Publikum - wahrscheinlich ohne vorher seinen Cellisten zu fragen, der somit ohne Luftzufuhr auskommen muss.
Lebensrettende Maßnahme: stetes Wedeln.
"Anplackt - zwei Gitarren, ein Cello", beginnt mit dem Multitalent Gwildis (gelernter Stuntman, Frauenschwarm ("Ich hab meinen Freund heute zu Hause gelassen, der wollte letztes Mal nicht mit in die erste Reihe"), Soulstimme, Entertainer) alleine - zusammen mit dem konzerterfahrenem Publikum, das bei der Beatbox-Darbietung sofort mitsingt. Überhaupt geht es nicht ohne die "Gemeinde" der Gwildis-Anhänger. Dabei stellt sich bald heraus: Gwildis inszeniert sich bewusst als Prediger - und macht sich über sich und sein Publikum lustig. Er freut sich tierisch darüber, dass er auf der Bühne machen kann, was er will, und seine Anhänger folgen ihm nach. Somit wird es während der zweieinhalb Stunden "Biosauna" nie langweilig - zuckersüße Balladen werden zu Beschreibungen von Mord und Totschlag (Lullaby), das Rendezvous zur Abrechnung mit allen Hundebesitzern (Bonzo) und auch die Psychotherapie durfte nicht fehlen ("Wir spielen dieses Lied, weil meine Therapeutin meinte, ich müsste dieses Gefühl noch einmal durchleben" - schön, schön, schön).
Perfektes Zusammenspiel trotz Hitze: Mirko und Stefan.
Musikalisch geht das Konzept auf - Gwildis überzeugt als Sänger, Beatbox und Mann für alles, sein Gitarrist Mirko Michalzik passt auch stimmlich hervorragend dazu und der Cellist Hagen Khur sorgt für Gänsehautfeeling ("Das alles geht vorbei"). Dazu kommen intelligente Texte und - was ich nie glauben konnte - gute Übersetzungen: "Walking in Memphis" ("Gestern war gestern"), "Big Yellow Taxi" ("Wenn es weg ist") und, und, und. Schade nur, dass Gwildis trotz alledem den Sprung zum Euorvision Song Contest 2005 knapp verpasst hat - damals war er mit seinem Song "Wunderschönes Grau" ins Rennen gegangen. Aber selbst wenn er es nach Kiew geschafft hätte, bezweifeln wir, dass er so ein Fest hätte veranstalten können, wie Lena in diesem Jahr... Vielleicht sollte er nächstes Jahr mit der Übersetzung von "Satellite" antreten? Nach zweieinhalb Stunden und etlichen Zugaben verlassen wir nass geschwitzt aber froh das Spiegelzelt. Ein schöner Auftakt des ZMFs - hallelujah!
killerkatze
Zuschauer: nicht ganz voll, aber viel zu warm
Spieldauer: 2h30
Es spielten:
Stefan Gwildis (Gesang, Gitarre)
Mirko Michalzik (Gesang, Gitarre)
Hagen Kuhr (Cello)
Heimatseite des Zelt-Musik-Festivals
19.03.2010, 20.00 Uhr, Kongresszentrum Zürich:
Paco De Lucia zu Gast am Züri See
Publikum erreicht leider nicht die Klasse der Musiker
Im Jahre 2008 war Gerado Nunez, 2009 Tomatito und nun auch noch der Allergrösste lebende Flamenco Gitarrist zu Gast in der Schweiz: Paco De Lucia! Musikerherz, was willst du mehr? Die Vorfreude auf dieses Konzert war riesig.
Fast pünktlich betrat der Meister, unter frenetischem Jubel des Publikums, die Bühne. Er setzte sich und begann Solo mit einem klassischen Flamenco. Sofort zeigte er seine unglaubliche Virtuosität. Nachdem der Jubel im Anschluss an das erste Stück verebbt war, gesellten sich nach und nach seine Mitstreiter zu ihm und Paco De Lucia ließ jedem seiner exzellenten Musiker immer wieder Raum für Soli.
Arg gewöhnungsbedürftig waren allerdings die Einlagen des Mundharmonikaspielers, Antonio Serrano. Zum einen hatte man das Gefühl er spiele in jedem Stück dieselbe Tonfolge, zum anderen passte der Harpsound einfach nicht ins Gesamtbild. Den Höhepunkt hob sich die Gruppe bis zum Schluss auf. "Farruco", der Tänzer wirbelte in schier unglaublichen Tempo exstatisch über das eigens aufgelegte Parkett. Er riss das Publikum mehrfach zu Begeisterungsstürmen hin. Nach fast zwei Stunden dann die einzige Zugabe. "Entre Dos Aquas", das schon über 35 Jahre alte Stück, dem Woody Allen in seinem Film "Vicky Cristina Barcelona" ein Denkmal gesetzt hat. Der mittlerweile 62-jährige Paco De Lucia erwies sich, wie erwartet, als grossartiger Gitarrist, erreichte allerdings nie ganz die Dynamik und den Drive des Tomatito, den wir im letzten Dezember in Luzern bewundern durften.
Ein Teil des Publikums trübte den Musikgenuss leider erheblich. Während der ersten Hälfte des Konzerts flackerten ständig die Taschenlampen des Personals, das verspäteten Gästen bei der Sitzplatzsuche behilflich sein musste. Permanent stöckelten Damen vorbei um kurz darauf mit Getränken zurück zu klackern. Die meist spitzen Absätze machten zwar auch flamencoartige Geräusche, leider ging den Schönheiten jegliches Rythmusgefühl ab. Einfach ätzend.
Und wie man auf die Idee kommen kann, mit dem Handy aus 30 Metern Entfernung mit dem Blitz zu knipsen… aber lassen wir das. Das Benehmen war jedenfalls unter aller Sau; einfach respektlos gegenüber einem der grössten lebenden Künstlern.
the Bishop
Zuschauer: ausverkauft
Spieldauer: 110 Minuten
Mit Paco de Lucia spielten:
El Pirana: Percussion
Nino Josele: Guitar
Alain Perez: Bass
Antonio Serrano: Harmonica, Keyboard
David de Jacoba: Vocals
Duquende: Vocals
Farruco: Dance
Homepage von Paco de Lucia
Homepage des Veranstalters
Tomatito: Eine Offenbarung in Sachen Flamenco
Gerado Nunez verzückt sein Publikum