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  Kultur * 2003/2004

Konzertberichte, Plattenkritiken & Buchbesprechungen

24.12.2004: Dos Guitarras, Valle Gran Rey, La Gomera
19.12.2004: Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod
20.11.2004: Wiglaf Droste und das Spardosenterzett, Dornbirn, Spielboden
08.11.2004: Badesalz "Das Baby mit dem Goldzahn"
16.07.2004: Wir sind Helden, Lörrach, Stimmen
10.12.2003: Die ärzte, Zürich, Hallenstadion

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Das Weihnachtskonzert
Ein gutes Essen und Flamenco zu Heilig Abend - was will man mehr?
Dos Guitarras im Club del Mar, Valle Gran Rey, La Gomera, 24.12.2004

"Heilig Abend" und nicht im Kreise der Familie - oder doch irgendwie, aber das Geheimnis der Essensrundenzusammensetzung fällt an dieser Stelle der Diskretion zum Opfer. Liebe Menschen waren es allenthalben, die Vorspeisen (Knoblauchbrot, überbackener Brokkoli, Salat) und der Hauptgang - Fleisch in verschiedenen Variationen (Steaks, Entrecote, Hasengeschnetzeltes) - waren lecker, der Wein zum Essen eh und das Meeresrauschen im Ohr tat sein übriges dazu.
Danach noch zwei Sektchen - wahlweise mit Red Bull - in Kims "Weihnachtsbar" und dann ab in die beste Disco am Platze: "Club del Mar". Dort findet das Gegenkonzert zur auf dem Vorplatz am Strand stattfindenden Fiesta statt. "Fiesta" hört sich zwar gut an, ist aber letztlich auch nichts anderes als das Zeller "Städtlifescht", das Gegenkonzert also voll gerechtfertigt.
Dos Guitarras im Club del Mar Die "Dos Guitarras" - ein Festlandspanier, der in FFM aufgewachsen ist und ein Deutscher dem auch der Flamenco im Blut zu liegen scheint - treten die Nachfolge von Paco de Lucia und Al die Meola an. (Noch nie viel es mir einfacher eine Band in eine Schublade zu stecken.) Zwei Gitarren, zwischendurch spanisch-deutsche Ansagen, ein Genuss zur Verdauung. DJ Achmed aus Teheran beschwert sich zwischendurch bei mir, dass sie zu lange spielen, weil er jetzt auflegen will. Aus seiner Sicht verständlich - kennt er die Dos Guitarras doch schon in und auswendig - aber der Musikgenuss bei Wodka Bull und geschlossenen Augen ist zu groß, als dass ich ihm beipflichten könnte. Musikgenuss pur.
Die anschließende Disco-Mukke erspart man sich dann besser für die nächste halbe Stunde und hört sich doch lieber auf der Promenadenmauer schwebend die gomerianische Volksmusik aus der Ferne an. Danach kann dann wieder die wilde Party weitergehen, und dass bis zum Sonnenaufgang...
jh

Dos Guitarras sind:
Joaquin Carlos Kaesler
Ulises Arturo Gomez Diaz
Spielzeit: ca. 2 Stunden
Die Combo ist immer mal wieder auf La Gomera anzutreffen, mit Glück aktuelle Programmhinweise auf: www.clubdelmar-gomera.net


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Bastian Sick "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod"
Auf den Kanaren lässt sich's gut Lesen

Erstmals im Leben sitze ich am Vortag meines Geburtstags im T-Shirt, kurzer Hose und barfüßig in der Sonne, lasse mir eine leichte Seebrise um die Nase wehen und führe mir Bastian Sicks "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" zu Gemüte.
Schrob ich eben "zu Gemüte"? Schon kommen Zweifel auf, ob man sich ein Buch überhaupt "zu Gemüte" führen kann, oder ob es nicht irgendwie anders heißen müsste. Der Duden steht zu Hause im Regal, viereinhalbtausend Kilometer zu weit weg, um eben mal schnell nachzuschlagen, und in welchem Dudenband stünde so etwas überhaupt?
Solche Zweifel sind wohl nach der Lektüre von Sicks Buch unvermeidlich. - Unterbrochen werde ich von einem Hippie mit Wickelrock (und schon wieder so eine Frage: gibt es den weiblichen Hippie, oder heißt es dann einfach "die Hippie" und wurde ich folglich unterbrochen von "einer Hippie"? [Nachtrag 2007: Statt der naheligenden "Hippe" könnte man auch das viel schönere "Blumenmädchen" benutzen.] ) - nunja, vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang auf den Begriff Hippie an sich verzichten und den wahrscheinlich treffenderen Begriff "Eso-Tuss" benutzen - wie auch immer - jedenfalls frog sie mich, ob ich ihr eine Zigarette "verkaufen" könne. Nun hätte ich ihr eine Kippe geben können, die angemessenen 11 Cent entgegen nehmen und die Sache auf sich beruhen lassen, aber im Urlaub, eh in Geberlaune und bei den Kippenpreisen völlig unangemessen, einzelne Zigaretten zu verkaufen, konterte ich die Frage nach dem Verkauf: "Ich kann Dir eine geben, verkaufen aber nicht" - ich entblödete mich nicht noch ein völlig sinnfreies "Wir sind hier ja nicht in Deutschland" hinterherzuschieben, vermutlich wollte ich damit auf die unterschiedlichen Preise anspielen (wenn man es darauf anlegt, bekommt man auf den Kanaren auch Zigaretten zu 1,955 ct.) was man aber durchaus treffender hätte formulieren können - sei's drum.
Just in diesen Minuten geht das letzte Spiel der SC-Damen im Kalenderjahr 2004 zu Ende, aber ich muss noch zwei Stunden warten, bis das Internet-Cafe öffnet und ich vielleicht das Ergebnis erfahren darf. Wie auch immer es ausgegangen sein mag, die Spielerinnen können nun auch in den verdienten Urlaub fahren - gerne hätte ich vor dem Urlaub mit einer der Spielerinnen eine Zwischenbilanz zum Ende der Hinrunde gezogen, aber manchmal habe ich das Gefühl, es ist einfacher einen Interviewtermin mit einem aus dem Herren-Profikader zu bekommen, als dies bei den zumeist vollbeschäftigten Damen der Fall ist.
Nun bin ich endgültig abgeschweift - was so eine Frage nach einer Kippe alles bewirken kann. Eine saubere Rückkehr zum eigentlich zu besprechenden Buch scheint nicht mehr möglich. Dennoch - es war auch bei den Zeilen, die nichts damit zu tun haben ständig präsent, nach jeder sprachlichen Kapriole fragt man sich: "Ist das überhaupt Deutsch?" (Womit die Sprache und sonst nichts gemeint ist!)
In zahlreichen Kolumnen, die allesamt unter spiegel-online schon einmal erschienen sind, und wohl auch weiterhin erscheinen, kämpft sich der Autor durch und auch gegen die sprachlichen und orthographischen Wirrungen des Jahres 2004, prangert dabei "Werbung pur" statt "purer Werbung" und den Wahnsinn des Genitiv-Apostrophierens an.
Für Freunde des sprachlichen Onanierens eine unterhaltsame und lehrreiche Pflichtlektüre - sei es für den Strand, oder einfach als Buch fürs Klo. Die wenige Seiten füllenden einzelnen Kolumnen können ohne weiteres mit größeren Pausen gelesen werden, ohne den Zusammenhang zu verlieren, vielleicht auch einfach wöchentlich unter spiegel-online.de. Nur am Strand wird das ohne UMTS-Handy und Laptop etwas schwierig - und das hat hier noch keiner - zum Glück!
jh


www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch


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"Wenn es Scheiße regnet ist die Kunst ein Regenschirm"
Wiglaf Droste und das Spardosenterzett im Spielboden, Dornbirn, 20.11.04

Obwohl das Wetter geradezu nach einer Sitzheizung schrie: die Vignette war am falschen Auto. Also tapfer sein, in Dornbirn gabs zum Glück einen gastfreundlichen Kaffee und danach warme Speisen im Spielboden, beides durchaus empfehlenswert.
Auch wenn wir nicht mehr die Jüngsten sind: gleich war klar dass wir den Durchschnitt von 40 locker senken werden...so ist das wohl, wenn Wiglaf Droste und das Spardosenterzett zum Konzert laden. Der Erstere dann auch leger mit Anzug, die Zweiteren in Schlips und Krawatte. Das Line-Up: Flügel / E-Piano / Gitarre, Kontrabass / Mundharmonika, Standschlagzeug / Percussions. Plus Droste, mit Buch und Schreibtisch bewaffnet. Los geht’s: eine lustige Mischung irgendwo zwischen Jazz und Comedian Harmonists nimmt ihren Lauf, und was mir von Tonträger anstrengend anmutete ist live durchaus sehens- und hörenswert, natürlich auf einem musikalischen Niveau das meines übersteigt...
"Ausgeplündert in Paris" heißt einer der ersten Songs, der dann auch Herrn Droste auf die Bühne bringt, anscheinend von der Musik so ergriffen, dass er sich wild gestikulierend gerade noch abhalten kann, Luftgitarre zu spielen. Im Folgenden dann ein abwechslungsreiches Programm, mal das Spardosenterzett, mal singt Droste mit, mal machen die Musiker Pause und Droste liest ein paar Episoden aus den mitgebrachten Büchern. Darin wird drostetypisch mal die Forsythie als Ratte unter den Pflanzen oder 9/11 als Geburtsstunde der bemannt fliegenden Architekturkritik bezeichnet. Sensationell die Ode an Johnny Cash: 'Hurt' von der American IV, solo gesungen, dass es einem kalt den Rücken juckt. Da weiss man dann auch warum er als Schriftsteller und Sänger angekündigt wurde.
Sehr zum kurzweiligen Abend hat auch eine sowohl musikalisch als auch in Bühnenshow ska-artige Version von 'Hotel California' beigetragen. Lediglich der Sinn oder Zweck der im letzten Lied und vor der Bühne von Droste geschlagenen Räder waren nicht ganz erkennbar, nur hat man es ihm noch bei der zweiten Zugabe angehört dass es wohl eine Art Verneinung des Alters gewesen sein muss.
Alles in allem ein gediegener und amüsanter Abend, gerne wieder mal. Die überschrift ist übrigens ein Zitat vom Spardosenterzett und bei der Heimfahrt auf dem kalten Autositz ist uns zwangsläufig Drostes Vorschlag zum 'schönsten Deutschen Wort' nicht aus dem Sinn gegangen... 'Mösenstövchen'
Timo

Das Spardosenterzett und Wiglaf Droste sind:
Kai Struwe (Kontrabass, Mundharmonika und Gesang)
Rainer Lipski (Klavier und Gitarre)
Mickey Neher (kleines Schlagzeug)
Wiglaf Droste (Gesang)
www.wiglafdroste.de

Badesalz "Das Baby mit dem Goldzahn"
CD, ab 8.11.'04 im Handel, Spieldauer 1:05:38

Die "Geschichte spielt in der Zukunft, es herrscht eine große Dürre, und die meisten Gehirne sind vertrocknet! Es gibt einen fiesen Herrscher namens Rado, der die allgemeine Dummheit nicht nur ausnutzt, sondern sie mit allen Mitteln noch vergrößern will. Er hat nicht nur Unis in Tattooshops umbauen lassen, nein, er hat sogar Schlager verboten, weil deren Inhalte zu positiv und auch zu intelligent sind! Dementsprechend leben alle verbliebenen Schlagersänger im Untergrund, soweit sie nicht von den Schlagerjägern erwischt werden...Und zwischen einer Menge anderer Wesen gibt es ein Mädchen namens Lea, die als Einzige die Welt vor dem endgültigen Untergang retten kann, zumindest behauptet man das..."
Soweit der Pressetext wie er auch auf der Homepage von Badesalz zu lesen ist. Doch nach dem Hören der CD bleibt nicht mehr viel übrig von dem tollen Märchen - vielmehr ist es eine Geschichte, die den üblichen Späßen der Badesalz-Truppe einen notdürftigen Rahmen geben. Wahllose Stationen der Heldin Lea werden abgeklappert, um die Späße unterzubringen. Die trifft sie die "heiße Luft" die von niemandem außer ihr (eben sprichwörtlich) ernst genommen wird, einen Fotografen der marktschreierisch davon abrät, sich von ihm fotografieren zu lassen und nicht zuletzt "Demo Jenny" die in Ermangelung eines Grundes für eine Demonstration kurzerhand dazu aufruft gegen sie und ihr schreckliche Stimme zu demonstrieren.
Im Einzelnen betrachtet also durchaus gute Witze, die einem das ein oder andere mal durchaus zu einem herzhaften Lacher gereichen. Aber, wie so oft: Früher war alles besser, so vermisst der geneigte Elektroingenieur eben den Sohn, der jetzt seit 42 Jahren Elektroingenieur ist, oder solche Klassiker wie "Du zu mir". Dennoch, Badesalz ist mit "Das Baby mit dem Goldzahn" eine Geschichte von Tyrannen und Umweltverschmutzern gelungen, die Gesellschaftskritik in witziger Verpackung erhält.
Urteil: Kann man mal hören...
Badesalz sind seit Mitte Oktober "on tour" - siehe: www.badesalz.de
jh

"In Lörrach gibt es die besten Frisuren"
Stimmen 2004: "Wir sind Helden" auf dem Markplatz Lörrach, 16.07.2004

Einer der ersten Hochsommertage in diesem Jahr - pünktlich zum Konzert von "Wir sind Helden" aus Berlin auf dem Lörracher Marktplatz kam das gute Wetter in diesem Jahr. Eine Voraussetzung, dass der Abend so speziell werden sollte, wie er geworden ist.
Zunächst einmal also in Freiburg ins Auto und ab Richtung Lörrach. Schon in der Stadt steht die erste Entscheidung an: über die Autobahn flitzen bzw. von gestressten Urlaubern ausbremsen lassen oder eben dann doch besser über die Bundesstraße und das Ausbremsen gelegentlich von einem Traktor übernehmen lassen. Ich entscheide mich für die überlandidylle, die Anlage mit den Red Hot Chilli Peppers gefüttert - fehlt nur noch ein offenes Dach. Die Traktoren waren wie erwartet zahlreich und das Markgräfler Land (wo beginnt das eigentlich genau?) schön wie immer.
Natürlich nicht rechtzeitig in Lörrach - eine Stunde vor dem Konzert sollte ich die Karte abholen, nur das akademische Viertel zu spät kommen, schaffe ich gerade so und es ist alles kein Problem. Die Pressebetreuerin ist ausgesprochen nett - und so stehe ich schon bald vor dem Einlass und begehre selbigen. Am Eingang des Marktplatzes wird man nicht etwa auf Waffen oder derartige schlimme Dinge kontrolliert, nein, vielmehr werde ich aufgefordert, meine Zigarettenschachtel zu öffnen. Was soll man davon halten? Lieber eine Schiesserei als bekiffte Hippies? Ist das das Ziel des Veranstalters? Nun hatte ich weder Joints in der Kippenschachtel, noch beulte eine 9-Millimeter meine Hose aus und durfte also ohne Aufsehen den Markplatz betreten. "Urbane Gastfreundlichkeit erwartet sie" hatte ich einmal über Lörrach in eine Fernsehbericht gehört - dieser Satz kam mir spontan in den Sinn.
Die Uhr ging langsam auf die Prime Time zu und unverhofft wurde eine Vorgruppe angekündigt - Tiger Tunes aus Dänemark.
In der Besetzung Gesang, Gitarre, Bass, Schlagzeug saßen und standen vier Herren auf der Bühne. Hinzu kam eine Keyboarderin, die in ihrem Donald-Duck-Kostüm sich hauptsächlich darauf verlegte auf der Bühne herumzuhopsen und vorprogrammierte lange Sequenzen durch einen Tastendruck auf ihrem DX-7 zu starten. Okay, manchmal spielte sie auch mit zehn Fingern, aber alles in allem war die Vorgruppe eher überflüssig. Eine Mischung aus Depeche Mode, The Cure und was weiß ich, was man da noch für eine Schublade aufmachen könnte. Aber eben leider nicht halb so gut, wie die vorgenannten - zum Zeitvertreib gerade so noch okay.
Ich spazierte ein wenig im hinteren Bereich des Markplatzes herum und lies das Flair auf mich wirken. Alles in allem schon eine geile Sache, wenn man will, kann man das Konzert auch aus dem Eiscafe heraus anhören und sehen, oder wer es noch gediegener haben will, lässt sich beim Chinesen eine Pekingente (die garantiert nicht aus Peking kommt) mit lecker Morchelsalat servieren. Aber auch die "Medienpartner" des Festivals waren in Form eines kleinen Standes präsent. Namentlich der Sender SWR1 bot den tollen Service an, sich einen "Eins-gehört-gehört"-Button noch mit seinem Namen zu verzieren und vor Ort pressen zu lassen. Ich schrieb also www.pankerknacker.de d'rauf, weil ich heute ja sozusagen im Auftrag des besten Punk-Rock-Magazins aller Zeiten unterwegs war. Ich hätte mich natürlich auch für das bei weitem seriösere www.dorfgeschwaetz.de (oder wer's mal probieren will: www.dorfgeschwätz.de) entscheiden können, aber die nette Buttonpresserin meinte, das könne sowieso niemand lesen. Dabei hatte ich mir solche Mühe gegeben, deutlich zu schreiben.
Nach einer guten halben Stunde war dann die Vorgruppe zu Ende, die Umbaupause zog sich fast eine halbe Stunde hin. Das tat aber der Stimmung keinen Abbruch, die Band ist wohl bekannter, als ich mir das so gedacht hätte. Vielleicht fünf Minuten habe ich im Leben schon mal bewusst "Wir sind Helden" gehört und fast alle, denen ich erzählte, dass ich mir die anschauen werde, reagierten mit einem: "Muss man die kennen?". Nach diesem Konzert möchte ich diese Frage vorab mit einem klaren: "Ja, eigentlich schon!" beantworten.
Dass die Stunde nahte, da Wir sind Helden (WsH) auf die Bühne kommen sollte wurde mit Caravan Of Love von den Flying Pickets vom Band in fast Nennlautstärke angekündigt. Und so legten sie dann schließlich los. Ein Novum ist, dass bereits beim ersten Stück eine Bassseite gerissen ist, dass habe ich noch nie erlebt und WsH wohl auch nicht. Aber schon diese erste Klippe umschifften sie souverän. Jean-Michel, der Keyboarder (der sich im weiteren Verlauf auch gelegentlich eine Gitarre umband) fing spontan das Holzfällerlied an zu singen: "Ich bin ein Holzfäller und mir geht's gut, am Tag packt mich die Arbeitswut,..." - wer jetzt dieses Lied noch nicht kennt, dem bringt es auch nichts, wenn ich den Text noch weiter zitiere. Diese Souveränität sollte sich durch das gesamte Programm hindurch ziehen. Als Judith ihre Gitarre stimmen musste, wurde eine La-Ola mit den Zuschauern an den Fenstern der angrenzenden Wohnungen veranstaltet. Im Zuge dessen erfuhr man noch, dass die Schwester des Schlagzeugers mit einem Lörracher verheiratet ist ("Ich bin ein Lörracher - vom Herzen her" - normalerweise eine plumpe Schleimerei, die aber im Fall so nett gesagt wurde, dass schon wieder etwas dran sein könnte). Das nahm man zum Anlass, das folgende Lied mit frisch gestimmter Gitarre "dem Trommler seiner Schwesters Mann deren Baby" (oder so ähnlich) zu widmen - im Refrain kam oft die Zeile "es geht vorbei" - was soll man davon halten?
Gegen Ende des Programms kam dann auch noch etwas Politik ins Spiel: "In einem großen Land finden bald Wahlen statt, und an diesem Wahltag solltet ihr Euch zuhause hinsetzen und irgendwie mitwählen - ich glaube die brauchen das" war die Ansage für eine Top-Coverversion des New Model Army Hits 51st State.
übrigens nicht das einzige Cover-Stück, auch "Halt dich an deiner Liebe fest" von Rio Reiser wurde zum besten gegeben, und Led Zeppelins "Whole Lotta Love" wurde auch mal angedeutet.
Alles in allem ein sehr abwechslungsreiches, unterhaltsames Programm, sehr (Herr Netzer würde an dieser Stelle noch ein zweites "sehr" einbauen) angenehm abgehoben vom üblichen "clap your hands in the air"-Getue. So ein bisschen fühlte ich mich wie auf einem Konzert in einem Jugendclub mit 150 Leuten. Alles in allem sehr familiär, ganz deutlich zu spüren, dass der Band der Erfolg noch nicht in den Kopf gestiegen ist (was noch lange so bleiben möge!), der Sound war auch Klasse, und zwar, soweit ich gekommen bin, eigentlich auf dem gesamten Marktplatz (und das ist nicht einfach in diesen "Häuserschluchten"), die Lichtanlage zwar professionell aber eben auch nicht übertrieben.
In Punkto Qualität und Stimmung möchte ich an dieser Stelle den Zu-Späten-Quotienten einführen, wobei das Konzert der "Zu Späten" (die beste Band der Welt) in Stuttgart im Jahr 2000 als Referenz mit einem Wert von 10 (kaum steigerbar) anzugeben ist. Auf dieser Skala würde ich "Wir sind Helden" auf dem Lörracher Marktplatz eine 8 (großartig) verleihen.
Der "Backliner", der die Bassseite anfangs reparieren musste wollte übrigens heute in Lörrach zum Frisör, weil "in Lörrach gibt es die besten Frisuren" aber leider waren alle "Frieseure und Frisetten" schon unterwegs zum Konzert.
jh

"Wir sind Helden" sind:
Judith Holofernes (26, Gesang, Gitarre, Konsumkritik)
Mark Tavassol (29, Bass)
Jean-Michel Tourette (27, Keyboards, Gitarre)
Pola Roy (27, Schlagzeug, Bart)
Spieldauer ca. 2 Std.
Zu-Spät-Quotient: 8
www.wirsindhelden.de

29.04.2005: Wir sind Helden, Zürich

Die ärzte
Zürich Hallenstadion, 10.12.2003

Um es gleich vorweg zu sagen: zum Glück und wie erwartet haben Die ärzte die doch zahlreichen Lieder der neuen Platte, welche man meines Erachtens zur Vermeidung eines Doppelalbums gerne hätte streichen können, nicht vorgetragen. (Vermutlich sind diese einer mir nicht geläufigen Zielgruppe zugedacht, die Freiheit des Künstlers mag die Veröffentlichung natürlich rechtfertigen). "Fünf Minuten vor der Zeit ist die Wahre Pünktlichkeit" haben sich die Veranstalter wohl gedacht, jedenfalls war bei unserem Eintreffen von dem Fetten Brot keine Spur mehr zu sehen, abgesehen von einer lustigen Showeinlage im späten Verlauf der ärzte.
Also, los gehts: nach einiger Gewöhnungszeit an den durch bauliche Maßnahmen nicht unterbundenen dumpfen Sound, die ärzte, charmant, schnell, 2 1/2 Stunden live. Viel von der neuen Platte, natürlich einige Klassiker und sensationell gut: eine unplugged-Einlage erster Sahne. Für's Auge gab's viel zu sehen: ein (in aus der Ferne nicht näher bestimmbarer Klamotte gekleideter) herumstolzierender Gockel namens Bela, Farin im weißen Anzug über eine perfekte Welt und Dauerekektionen sinnierend, alle Herren stets im Verfolger-Spot a la Sinatra stehend fröhlich musizierend und ab und an, überaschung!, Pyrotechnik nicht im rammstein'schen Stil, sondern eher als verpuffende Knallbonbons wirkend. Sensationell auch die Aussicht von der Tribüne auf die sich bewegenden Gäste in der Arena. Klar ist und war: ein ärzte-Konzert lohnt sich natürlich immer, schon allein wegen der Unterhaltung zwischen den Titeln. Das untrügliches Gespür für Geschwindigkeit macht auch uralte, potentiell totgespielte Stücke interessant und spassig (und macht die Realschule-Platte so geil), ein paar Stücke der 'Geräusch' werden sich wohl auch in Zukunft auf Konzerten zu hören sein, nicht zum Nachteil des Rockfaktors. Im nächsten Jahr geht's ja gleich weiter mit einer neuen Tour, wer nicht dabei ist ist selbst schuld. Wenn's dann noch bald eine neue live-Platte geben würde...
timo

"Die ärzte" sind:
Bela B. (Schlagzeug, Gesang)
Farin Urlaub (Gitarre, Gesang)
Rod Gonzales (Bass, Gesang)
Spieldauer ca. 2,5 Std.
www.bademeister.com


 
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