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Archiv / Ausgabe 4 / Inland
Gedanken eines Nazi-Verfolgten zur Bundestagswahl
Braune und schwarze Schatten über unserem Land
Man merkt es an den plötzlichen Erfolgsmeldungen der Bundesregierung, daß, wie immer vor Wahlen, alle Finten und Sprüche herhalten müssen, um wieder an die Regierung und ihre Posten zu kommen. Veränderungen bis zur dritten Stelle hinter dem Komma bei den Prozentzahlen der Arbeitslosen und der sonstigen Wirtschaftszahlen werden zu Siegesmeldungen hochgejubelt. Dazu werden die Feindbilder vom politischen Gegner aus der Mottenkiste geholt, auch wenn man sich dabei noch so lächerlich macht, wie Herr Pastor Hintze. Das Wahldesaster vom Mai in Sachsen-Anhalt hat die politischen Macher verwirrt und ziemlich ratlos gemacht. Mit einem Schlag erhielten die Neonazis mit ihren dumpfen, deutschtümmelnden Parolen 13 Prozent der Wählerstimmen, noch dazu vorwiegend von der jungen Generation.
Das hat auch mich erschreckt. Zeigt es doch, wie tief der alte braune Mief noch in unserem Volk verwurzelt ist und Generation um Generation weiterverpflanzt wird.
Was steckt dahinter: Protesthaltung, Absage an die etablierten Parteien und ihre Politik, die soziale Perspektivlosigkeit oder politische Unmündigkeit der jungen WählerInnen?
Ich glaube, nur an den Stimmerfolgen und Mißerfolgen herumzudeuteln bringt nichts. Man sollte tiefer nach den verschiedenen Ursachen eines solchen Debakels suchen, um sich klar zu werden, wie ein solcher Aufwärtstrend nach Rechts bei der Bundestagswahl verhindert werden kann. Obwohl das Debakel ja wohl nicht das Wahlergebnis ist, sondern die langjährige miserable Politik davor, die dazu geführt hat. Die Schlußfolgerung, daß allein eine Stimmabgabe alle paar Jahre nicht genügt, um das Wohl eines Volkes zu sichern, ist das Wichtigste, was wir ziehen sollten, und daß zwischen den Wahlen dafür zu sorgen ist, daß unsere Nöte und Forderungen gehört und durchgesetzt werden.
"Mehr Demokratie wagen!" hat einmal Bundeskanzler Brandt gefordert. Und die Berufsverbote gegen mißliebige Andersdenkende erfunden, die dann tatsächlich durch außerparlamentarische Proteste im In- und Ausland zu Fall gebracht wurden.
Es sollte uns zu denken geben, daß seit der Friedensbewegung die Demokratie von unten zu einem kleinen Häuflein zusammengeschmolzen ist. Wie könnte es sonst sein, daß der dramatische Aufruf hunderter ProfessorInnen, SchriftstellerInnen, KünstlerInnen, KirchenvertreterInnen, GewerkschafterInnen, ParlamentariererInnen u.a., die "Erfurter Erklärung" vom Januar 1997, zu keiner bundesweiten gemeinsamen Aktion geworden ist, wie die InitiatorInnen es sich gewünscht hatten?
Ihre Erklärung trägt den Titel "Bis hierher und nicht weiter!" Sie forderten: "Wir brauchen eine andere Regierung", mit der Begründung, "die regierende Politik ist in einem Zustand von gnadenloser Ungerechtigkeit, Sozialverschleiß und fehlenden Perspektiven versunken. - Wir stehen mitten in einem Epochenwechsel".
Zu den braunen Schatten der Rechtsextremen gesellen sich also die schwarzen Schatten der sozialen Verwerfungen, die, wie oft in unserer Geschichte, zu extremen politischen Umbrüchen führen.
Wie gefährlich diese Situation ist bestätigt auch ein ausländischer Beobachter, der US-Sozialwissenschaftler Richard Sennett. Er sieht im neuen globalen Markt mit seinen neuen Unsicherheiten einen Mechanismus gesellschaftlicher Selbstzerstörung, "die mit den alltäglichen Praktiken eines vitalen Kapitalismus verwoben ist."
Hans Gasparitsch, Jahrgang 1918, schrieb 1935 die Parole „Hitler = Krieg" auf den Sockel der Rossebändiger-Gruppe im Stuttgarter Schloßgarten. Er wurde gefaßt und zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Verbüßung seiner Haftstrafe wurde er jedoch nicht in die Freiheit entlassen, sondern ins „Konzentrationslager" eingeliefert. Dort verbrachte er die gesamten Kriegsjahre bis 1945. Mehr über seine Erlebnisse ist in dem Buch „Hanna, Kolka, Ast und Andere" des Autors Fritz Kaspar zu erfahren (19,80 DM). Das Bild entstand im Mai 1998 auf einem Camp der öTV-Jugend in Markelfingen, auf dem Hans Gasparitsch zu Gast war.
Laut dem Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstag Stihl denken die deutschen Herren der Wirtschaft anders: Die Einführung des Euros sei eine einmalige Chance, die „Instrumente des Staatskredits, der Geldversorgung und des Zinses" zu entnationalisieren und entpolitisieren und damit dem Staat zu entziehen.
Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter sagt daher: "Der Tanz ums goldene Ego hat sich durchgesetzt. Es steigert sich die unverhüllte Einvernahme durch das kapitalistische System. Der Glaube an das Gute in einem selbst verflog."
Und Walter Jens, Rhetorik-Professor an der Uni Tübingen gibt zu bedenken: Der große Lauschangriff sei so fatal wie die Tatsache, "daß ich zwar meine Stasi-Akte einsehen kann, aber nicht die Akte Walter Jens beim BND in Pullach."
Nach ständigem Abbau der verfassungsmäßig garantierten Menschenrechte, wie die Abschiebung von AsylbewerberInnen nach monatelanger, unwürdiger Haft in ihre unsicheren Heimatländer, die Verweigerung des deutschen Passes für hier geborene Ausländer, die Entsendung deutscher Soldaten in Krisengebiete, der große Lauschangriff, der unkontrolliert jeden treffen kann, veranlaßt daher nicht ohne Grund den
Ex-Staatsanwalt Heribert Prantl (nunmehr Leiter des Innenressorts der 'Süddeutschen Zeitung') zur Herausgabe seines Buches mit dem Titel "Sind wir noch zu retten?" und im Untertitel zur Aufforderung "Anstiftung zum Widerstand gegen eine gefährliche Politik". Denn die Talfahrt der Grundrechte sei rasant. Die unheilige Allianz zwischen den Medien und den "großen Männern" wie Kohl und Schröder habe zur Lähmung der Bürger geführt.
Ich glaube all dies sind genügend Argumente und Kriterien für die Entscheidung, ob man zur Wahl geht und wo man sein Kreuz macht.
Hans Gasparitsch,
ehemaliger Dachau-Häftling 709
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